Wie es begann
Am 14. März 1922 kommt es über Berlin zu einer ungeheuerlichen Explosion. Diejenigen, die das Grauen in großer Entfernung überleben, erzählen später von einer glühenden Wolke von so überirdischer Schönheit, dass man den Blick kaum davon abwenden konnte, bevor die Augäpfel in den Höhlen verglühten.
Die Explosionswolke beginnt sich nach wenigen Minuten zu kristallisieren, so dass über Berlin eine bizarre „Blume“ von mehreren Kilometern Höhe erblüht, in der immer noch enorme Kräfte wüten. Aus dem Innern des Kristalls schießen Aschewolken in die Höhe, verdunkeln den Himmel und lassen die deutsche Hauptstadt in stetigem Dämmerlicht versinken. Irgendjemand gibt dem unbeschreiblichen Konstrukt den Namen Die Blume des Azathoth.
Doch das Grauen findet kein Ende. Weitere Blumen erblühen über den Städten Europas und zerfetzen die Wirklichkeit. Hamburg, Warschau, Amsterdam, Brüssel, Köln, Prag, Paris, Frankfurt, Belgrad, München, Wien … sie alle verglühen im Licht des lebenden Chaos. Wie eine grausige Walze der Zerstörung wühlt sich das Grauen durch Europa.
Zurück bleiben nur die Dämmerlande.
Die Dämmerlande – Deutschland 1929
Vor sieben Jahren ging Deutschland, wie wir es kennen, unter. Unbegreifbare Kreaturen krochen unter der Blume des Azathoth hervor und drangen ins Umland vor. Die Reichswehr und schnell ausgehobene Bürgerwehren warfen sich dem unbekannten Feind entgegen, doch die wenigen schlecht bewaffneten Einheiten, die sie aufzubieten hatten, konnten sich kaum Minuten gegen die Kreaturen des kosmischen Grauens behaupten. Zehntausende Kämpfer starben einen sinnlosen Tod.
Seitdem liegt das Land in ewigem Dämmerlicht. Eisiger Ascheregen aus schwarzen Wolken, die sich am Himmel winden, hat das Land bedeckt und unfruchtbar gemacht. Und im ewigen Zwielicht lauern Kreaturen, die der menschliche Verstand nicht zu begreifen in der Lage ist.
Der Himmel in den Dämmerlanden
Der eisig-heiße Rauch der Explosionen breitet sich immer noch am Himmel aus. Er bildet grauschwarze Wolken, die das ganze Land in einem ständigen Dämmerlicht halten. Diese Wolken winden sich wie schuppig-schleimige Würmer umeinander, die ihre Leiber immer wieder verknoten, ohne sich jedoch jemals zu verfangen.
Immer wieder regnet schwarz-graue Asche aus der bleiernen Düsternis herab. Die schweren Flocken begraben die Natur unter sich, lassen die Pflanzen sterben oder zu bizarren Monstrositäten mutieren, deren Äste und Wurzeln nach den Lebewesen in ihrer Nähe tasten oder wie wirbelnde Peitschen nach ihnen schlagen. Doch auch ohne Niederschlag wirbeln Windstöße die Asche vom Boden empor und treiben sie durch die Luft.
Menschen und Tiere, die von den kalten Flocken im Freien überrascht werden, sterben unter grässlichen Schmerzen und erheben sich als blinde Aschenkriecher ohne Augen, die sich als tödliche Parodie lebender Wesen durch das verheerte Land schleppen.
Die Blumen des Azathoth
Über vielen großen Städten existieren die pilzförmig explodierten Kristalle, in denen grünlich-schwarze Energiestürme von unbeschreiblicher Macht glosen. Immer wieder brechen die Oberseiten der Kristalle auf, stoßen Asche und Rauch aus, die sich mit den Wolken am Himmel verbinden.
Tastende Tentakel grünlicher Energie kriechen durch die Straßen und Ruinen, auf der Suche nach Überlebenden, die sich in den Resten zertrümmerter Mauern verbergen. Sie scheinen sich ständig auf der Jagd nach allzu vorwitzigen Suchern zu befinden, die auf der Jagd nach Ausrüstung oder Reichtum die Städte wieder betreten.
Doch die verheerten Städte sind nicht so leer, wie man glauben möchte. Die Blumenkinder, Angehörigen eines schrecklichen Kults, leben im lichtdurchfluteten Schatten der Kristalle. Ihre Körper haben sich in der todbringenden Energie ihres Herrn verändert, sind zu lederhäutig mumifizierten Kadavern geworden, denen man nicht zutrauen würde, dass sie sich noch bewegen könnten. Doch sie sind gefährliche Gegner, die man nicht unterschätzen sollte.
Die Menschen in den Dämmerlanden
Einige Menschen haben sich kleine Zufluchten geschaffen, ehemalige Gehöfte oder Landschlösser, in denen sie zu überleben versuchen. Die meisten verkriechen sich jedoch nur in lichtlosen Kellern und degenerieren zu Tieren, die nur noch an das eigene Überleben denken. Sie kämpfen untereinander um das Wenige, was geblieben ist, und beten zu verlorenen Götzen, in der Hoffnung, dass diese ihnen gegen das allzu reale Grauen helfen mögen.
Andere Überlebende wagen es nicht, zu lange an einem Ort zu bleiben und bewegen sich stattdessen durch das Zwielicht, immer auf der Suche nach einem Unterschlupf, bevor sie der eigenen Schwäche Tribut zollen müssen. Manche verdingen sich als Trosser, Wächter für die wenigen Konvois, die noch den Weg durch die Wildnis wagen.
Menschen, die sich ins Freie wagen, schützen sich mit schwerem Wetterzeug oder Lederkleidung vor der ständigen Bedrohung durch die schwarze Asche. Sie verbergen ihre Gesichter hinter Tüchern und Brillen, besser noch unter Gasmasken, um jeden Zentimeter Haut zu verbergen. Doch gegen die gelegentlichen Aschestürme helfen auch solche Maßnahmen nichts; in solchen Momenten muss man sich in geschlossenen Räumlichkeiten aufhalten.
Die herumziehenden Nomaden werden dabei gerne aufgenommen, denn sie sind eine der wichtigsten Informationsquellen für die Menschen. Seit dem Zusammenbruch der Zivilisation gibt es keine Zeitungen oder anderen Medien mehr, selbst Bücher sind zu einer absoluten Rarität geworden. Nur durch die Geschichten der Reisenden, die sich dem Schrecken der grauen Lande stellen, können die Menschen in den Städten und Zufluchten noch erfahren, was in Deutschland passiert ist und weiterhin passiert.
Oasen des Lichts
Nur wenige Ansiedlungen wurden nicht vom Ansturm der finsteren Wolken überrollt. Wie Oasen des Lichts liegen sie unter einem trügerisch blauen Himmel, umgeben von der staubig-grauen Wüstenei der Apokalypse. Hannover, Dortmund, Dresden, Göttingen, Nürnberg, Straßburg … niemand vermag zu sagen, warum gerade sie dem Grauen widerstehen.
Nicht einmal die Kreaturen der Dämmerlande betreten diese Orte. Wer die Lichtgrenzen überschreitet, vermag einen kleinen Moment Ruhe zu finden. Viele der Städte sind deshalb auch bis an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit gefüllt. Und das Ende des Überlebens ist bereits abzusehen …
– Ralf Sandfuchs, Kaid Ramdani; 2022