Kosmischer Horror
Kosmischer Horror
Was ist nun der Unterschied zwischen Kosmischem Horror im Gegensatz zu Horror im Allgemeinen? Was sind die besonderen Anforderungen, die ein Szenario – aber auch die Interpretation am Spieltisch – konkret ausmachen? Welche Elemente aus dem FHTAGN Regelwerk können dazu genutzt werden, gezielt die Angst vor dem Unnatürlichen zu wecken? Auf diese Fragen will das folgende Kapitel Antworten liefern.
Die Essenz einer Weird Tale
Die wahre Weird Tale umfasst mehr als nur einen geheimnisvollen Mord, blutige Knochen oder eine geisterhafte Erscheinung mit klirrenden Ketten. Sie muss eine gewisse Atmosphäre atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Kräften beinhalten; und es muss einen Hinweis auf diese für den menschlichen Geist so schreckliche Vorstellung geben, der mit angemessener Ernsthaftigkeit und Ungeheuerlichkeit präsentiert wird – eine bösartige und ungewöhnliche Aussetzung oder Aufhebung jener festen Naturgesetze, die unser einziger Schutz vor den Angriffen des Chaos und den Dämonen des unerforschten Raums sind.
The true weird tale has something more than secret murder, bloody bones, or a sheeted form clanking chains according to rule. A certain atmosphere of breathless and unexplainable dread of outer, unknown forces must be present; and there must be a hint, expressed with a seriousness and portentousness becoming its subject, of that most terrible conception of the human brain—a malign and particular suspension or defeat of those fixed laws of Nature which are our only safeguard against the assaults of chaos and the daemons of unplumbed space.
– Supernatural Horror in Literature,
I. Introduction
Supernatural Horror in Literature
Grundlage für den Kosmischen Horror in FHTAGN sind die fiktionalen Geschichten Lovecrafts und nicht zuletzt seine Abhandlung Supernatural Horror in Literature, in der er bereits viele Elemente beschrieb, die zu einer gelungenen Horrorgeschichte beitragen. Die jeweiligen Passagen werden zunächst im Original und in deutscher Übersetzung präsentiert und danach auf ihren Gehalt zum Thema Kosmischer Horror im Rollenspiel beleuchtet.
H. P. Lovecraft schrieb diesen Essay über grundlegende Elemente des Cosmic Horror Genres zwischen 1926 und 1927. Aus diesem Werk entstammt auch sein vielleicht berühmtester Satz:
Das älteste und stärkste Gefühl der Menschheit ist die Angst, und die älteste und stärkste Art der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.
Dieses starke Bild prägt sowohl seine eigenen Geschichten und kann ebenso als stilbildend für das gesamte Genre des Kosmischen Horrors gelten. Lovecraft selbst bezeichnet diese Art von Literatur als Weird Tale.
Der komplette Text findet sich unter anderem auf der Webseite The H.P. Lovecraft Archive unter der Adresse http://www.hplovecraft.com/writings/texts/essays/shil.aspx zur gefälligen Lektüre.
Das Unbekannte ist das Element, das die Essenz des Kosmischen Horrors ausmacht. Horror im Allgemeinen thematisiert häufig die Gefahr, die von Naturgewalten, Tieren oder Menschen ausgeht. Dem kosmischen Horror jedoch liegt eine fremde, unfassbare, von außen kommende Bedrohung zugrunde. Dies ist die Triebfeder, die zu Unwohlsein und Irritation führt. Wenn der gewohnte Rahmen, die rationale Erwartungshaltung oder die Naturgesetze gesprengt werden, dann funktionieren die normalen Reaktionsmuster des menschlichen Verstandes nicht mehr und lassen schließlich die Angst vor dem Unbekannten zum Vorschein kommen.
Nun stellt dieser kosmische Horror sowohl Autorinnen als auch Spielleiterinnen vor eine enorme Herausforderung. Wie soll beschrieben werden, was nicht beschrieben werden kann? Wie soll etwas Unbekanntes Gegenstand einer Geschichte sein, die nicht einfach nur aufgeschrieben, sondern mit anderen Spielerinnen gemeinsam erlebt werden soll, deren Entwicklung sich also unmöglich vorhersehen lässt? Und schließlich, wie soll von Mal zu Mal erneut so etwas wie Grusel aufkommen, wo man doch gemeinsam, entspannt und sicher an einem Tisch sitzt?
Die folgende Einteilung ist eher pragmatisch und fokussiert sich auf Epochen, die für ein lovecraftsches Setting besonders in Frage kommen.
Sie ist jedoch keinesfalls abschließend und auch ihre Übergänge zu nachfolgenden Zeitaltern sind durchaus fließend.
Weniger ist mehr
Zunächst einmal muss, um dem Konzept des Unbekannten zu folgen, der subtilen Beschreibung des Schreckens ein starker Fokus eingeräumt werden. Je expliziter etwas dargestellt wird, desto leichter lässt es sich begreifen und damit kontrollieren. Das kosmische Grauen lebt von Andeutungen, vagen und sogar widersprüchlichen Beschreibungen sowie unerklärlichen Fakten. Dabei ist es wichtig, dass dieser fantastische Einschnitt in die normale, logische Welt so ernsthaft wie möglich geschieht und vor allem die Reaktion hierauf auch so konsequent wie möglich eingefordert wird.
Regelmechaniken
Betrachtet man das Regelsystem von FHTAGN als solches, so definiert es (wie auch viele andere Systeme) gewisse Mechaniken, die die Wahrheit und die Naturgesetze für einen Charakter ausmachen. Verliert man bspw. durch Schaden Trefferpunkte und sinken diese auf 0, stirbt der Charakter. Diese Regelmechanismen bewirken gemeinhin folgende Reaktionen, die man sich zunutze machen kann.
Immersion durch geregelte Interaktion: Eine Spielerin erhält eine unmittelbare regelmechanische Rückkopplung, wenn sich ihr Charakter in der Spielwelt aufhält und dort agiert. Nicht nur der Charakter bewirkt etwas in der Welt, sondern die Welt hat auch unmittelbaren Einfluss auf den Charakter und seine Werte. Dieser Einfluss der Regelmechaniken in Kombination mit dem Einlassen auf den Charakter und die Spielwelt erzeugen Immersion, also das als wahr oder echt empfundene Gefühl, Teil einer Geschichte zu sein. Dies ist ganz maßgeblich, um Emotionen wie Angst auszulösen.
Um die Verankerung des Charakters in der Spielwelt und die Verbundenheit mit dieser zu stärken, sind die Bindungen und Motivationen eines Charakters von zentraler Bedeutung. Sie können durch die Spielleiterin sinnstiftend eingesetzt werden, indem man der Spielerin Gelegenheit gibt, bspw. in Zwischenszenen das Leben des Charakters zu gestalten und den Einfluss der Erlebnisse des Charakters auf die Bindungen und Motivationen thematisiert.
Die Regeln bestimmen die Logik: Wenn das kosmische Grauen Einzug hält und dabei auch regelmechanisch eingebettet ist, dann wird dies als in sich logisch wahrgenommen. Es folgt den Gesetzen des Spiels. Ein Charakter verliert geistige Stabilität, wenn er Zeuge von Gewalt, Hilflosigkeit oder des Unnatürlichen wird. Dies ist ein starker Stimulus mit einer starken Reaktion. Man sollte Spielerinnen grundsätzlich darin bestärken, den Verlust von geistiger Stabilität nach eigenem Ermessen und mit eigener Kreativität auszuspielen.
Die Regeln brechen die Logik: Wenn etwas Großes, ölig Schimmerndes und nach Tod oder Schlimmerem Riechendes auf einen Charakter zugewalzt kommt und nicht durch das normale Waffenarsenal zu verletzen ist, dann sorgen die Regeln einerseits wieder für die innere Logik, andererseits aber auch für deren Bruch. Dann wird unmittelbar deutlich, dass das kosmische Grauen sich nicht mit den gegebenen Gesetzen der Physik und Metaphysik herumschlagen muss. Das zeigt auf Ebene der Regeln, dass ein Charakter als Mensch nur sehr zerbrechlich und unbedeutend auf der Bühne des Kosmos ist. Eine Auswahl solcher Spielelemente findet sich im Abschnitt Unnatürliche Eigenschaften.
Einige Ängste sind größer als andere, man spricht dabei von sogenannten Urängsten, und sie gelten allgemein als starke Auslöser für Emotionen. Der Begriff Urangst wird in der Wissenschaft allerdings unterschiedlich interpretiert. Im Kontext des kosmischen Horrors eignen sich zudem bei Weitem nicht alle bekannten Urängste gleichermaßen.
Freeforms und LARPs
Selbstverständlich erzeugt auch ein Freeform-Rollenspiel (wenige bis keine Würfel und Proben) oder ein Live Action Rollenspiel (LARP) Immersion. Durch die körperlich aktivere Rolle der Spielerinnen und ohne den Fokus auf Regelmechaniken und Würfelproben funktioniert dies aber auf einer anderen Ebene als das klassische Pen-&-Paper-Rollenspiel. Während dort der Zufallsfaktor quasi schicksalhaft über den Ausgang von Würfelproben entscheidet, transportieren Freeforms und LARPs durch das direkte Hineinschlüpfen in die Rolle und Darstellen des Charakters eine ganz andere Verbundenheit mit den Geschehnissen eines Szenarios.
Das Spiel mit den Urängsten
Wenn zu diesem Gefühl der Angst und des Bösen die unvermeidliche Faszination des Staunens und der Neugier hinzukommt, entsteht ein einheitlicher Körper aus eindringlichem Gefühl und fantasievollem Anreiz, dessen Lebendigkeit zwangsweise so lange bestehen wird wie die Menschheit selbst. Kinder werden sich immer vor der Dunkelheit fürchten und Menschen, deren Verstand für die angeborenen Triebe empfänglich ist, werden stets erschaudern beim Gedanken an die verborgenen und unergründlichen Welten fremdartigen Lebens, die in den Abgründen jenseits der Sterne existieren mögen oder sogar unsere eigene Welt auf abscheuliche Weise aus entsetzlichen Dimensionen heraus bedrängen, in die nur die Toten und die Schlafwandler einen flüchtigen Blick werfen können.
When to this sense of fear and evil the inevitable fascination of wonder and curiosity is superadded, there is born a composite body of keen emotion and imaginative provocation whose vitality must of necessity endure as long as the human race itself. Children will always be afraid of the dark, and men with minds sensitive to hereditary impulse will always tremble at the thought of the hidden and fathomless worlds of strange life which may pulsate in the gulfs beyond the stars, or press hideously upon our own globe in unholy dimensions which only the dead and the moonstruck can glimpse.
– Supernatural Horror in Literature,
I. Introduction
Angst um den Charakter: Wenn es eine emotionale Verbundenheit zum Charakter gibt, dann wird die Sorge vor negativen Auswirkungen die Spielerin berühren. Je stärker die Verbundenheit mit dem Charakter von der Spielerin wahrgenommen wird, desto mehr Einfluss hat dies. Wenn das Schicksal eines Charakters nicht von Bedeutung ist, dann wird man schwerlich so etwas wie Angst oder Horror empfinden.
Angst um Bindungen: Ist ein Charakter in der Spielwelt gut verankert, lassen sich die Bindungen des Charakters ebenfalls einsetzen, um Angst zu erzeugen. Ein geliebter Partner wird bedroht, ein Freund verschwindet spurlos oder wird erpresst – Bindungen einzubeziehen macht die Spielwelt lebendiger und bedrohlicher.
Triggerwarnung
Bei allem Grauen und der Lust sich zu gruseln, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass FHTAGN ein Gesellschaftsspiel ist und alle beteiligten Personen hoffentlich eine Menge Spaß zusammen haben werden. Wer bei sich oder bei anderen etwas Gegenteiliges bemerkt, sollte das unbedingt zur Sprache bringen – in der Gruppe oder auch unter vier Augen mit der Spielleiterin. Dabei gilt es zu beachten, dass die eigene Vorstellung von Horror nicht unbedingt von allen geteilt werden muss. Insbesondere bei sensiblen Themen und Tabubrüchen ist es unter Umständen von Vorteil, die Grenzen der Mitspielerinnen im Vorfeld zu erfragen.
Verlust der Freiheit, Schmerz und Tod
Diese sehr physischen Urängste sind häufige Begleiter von Charakteren in cthuloiden Horror-Szenarien. Man sollte als Spielleiterin dennoch bedenken, dass selbstverständlich ein großer Abstand zwischen einer Spielerin und ihrem Charakter liegt. Wie bei den anderen Urängsten auch gilt es ein Bild im Kopf zu erzeugen und ein Gefühl zu transportieren, um so durch Immersion und Verbundenheit zum Charakter entsprechende Effekte in der Spielerin auszulösen.
Der Verlust von Freiheit kann daher bereits als bloße Androhung zu einer bestimmten Atmosphäre im Szenario beitragen. Die Handlung Festnageln in den Kampfregeln gibt sogar eine definierte Mechanik für den Verlust der körperlichen Freiheit gegen den Willen eines Charakters vor. Der drohende oder eingetretene Freiheitsverlust kann aber auch von anderer Art sein. Eine örtliche Beschränkung der Charaktere auf einen bestimmten Raum oder ein Gebäude (Kammerspiel oder geschlossener Raum) kann auch diese Angst transportieren. Einschränkungen der Freiheit durch staatliche Stellen wie Polizei oder Justiz (Befragung, Überwachung oder Restriktionen) – z. B. aufgrund vorangegangener Handlungen des Charakters – können ebenfalls einen hohen Druck erzeugen, ohne den Charakter unmittelbar einzuschränken. Zuletzt stellt auch eine geistige Beeinflussung oder Übernahme eine Form des Freiheitsverlustes dar. In diesem Fall kann die Spielleiterin die separate Kommunikation mit der betroffenen Spielerin bspw. über kleine Zettel führen. Dieses Spielelement sollte jedoch nicht überstrapaziert werden und nur in besonderen Fällen zum Einsatz kommen, da es der Spielerin die Entscheidungshoheit über ihren Charakter raubt.
Schmerzen sind für einen Charakter regelmechanisch mit dem Verlust von Trefferpunkten verbunden. Auch Zustände wie Benommenheit, Erschöpfung oder bleibender Schaden ermöglichen es der Spielerin die körperliche Situation und das Empfinden ihres Charakters widerzuspiegeln. Eine Spielleiterin kann sehr viel bewirken, wenn sie den Verlust oder den Zustand in bildhafte Worte kleidet.
Der mögliche Tod eines Charakters sollte unbedingt als ständiger Begleiter im Raum stehen. Andernfalls wird das Fehlen dieser letzten Konsequenz dazu führen, dass die Spielerinnen sich zu sehr in Sicherheit wiegen. Da der Charaktertod aber etwas Endgültiges ist, führt er auch zum Ende des (aktuellen) Spiels für die betroffene Spielerin. Schmerzen, bleibende Störungen oder bleibende Schäden generieren deshalb grundsätzlich mehr Spiel als der Tod eines Charakters.
Unberechenbarkeit, Mangel und Kontrollverlust
Das Unbekannte und gleichzeitig Unvorhersagbare wurde für unsere primitiven Vorfahren zur schrecklichen und allmächtigen Quelle aller Segnungen und Gefahren, die der Menschheit aus unverständlichen und vollkommen außerirdischen Gründen zuteilwurden und es war so klar ersichtlich, dass es zu Bereichen des Daseins gehört, von denen wir nichts wissen und an denen wir keinen Anteil haben.
The unknown, being likewise the unpredictable, became for our primitive forefathers a terrible and omnipotent source of boons and calamities visited upon mankind for cryptic and wholly extra-terrestrial reasons, and thus clearly belonging to spheres of existence whereof we know nothing and wherein we have no part.
– Supernatural Horror in Literature,
I. Introduction
Die drei Urängste Unberechenbarkeit, Mangel und Kontrollverlust sind essenzielle Bestandteile eines dramatischen Szenarios und können nicht genug als Schlüsselelemente betont werden.
Unberechenbarkeit: Das unvorhersehbare Agieren von Nichtspielercharakteren, unberechenbare Handlungsverläufe oder Naturereignisse können die Pläne der Spielerinnen auf eine harte Probe stellen. Pläne schaffen Sicherheit, Sicherheit nimmt Spannung. Eine Spielleiterin sollte also gut zuhören, wenn Spielerinnen am Tisch über die nächsten Schritte sprechen oder Ideen austauschen. Grundsätzlich nimmt „das Unvorhersagbare“ im Verlauf der menschlichen Geschichte bis zur Moderne immer mehr ab. Was für den Steinzeitmenschen unerklärliches Wirken göttlicher Mächte war, ist für den Menschen des 21. Jahrhunderts simple Naturwissenschaft. Doch das gilt nicht für das Unnatürliche, für den Mythos. Die Spielleiterin sollte immer bedenken, dass die Motivationen, Ziele und Handlungen unnatürlicher Wesen nicht menschlich nachvollziehbar sind oder sein müssen. Unnatürliche Rituale müssen keinen logischen Gesetzen folgen. Das Unnatürliche muss nicht erklärt werden – es darf und soll unverständlich und geheimnisvoll bleiben.
Mangel: Gute Ausrüstung, die richtigen Transportmittel, genügend Geld – all dies gibt ebenfalls das Gefühl sicher und gut gewappnet zu sein und führt damit zu einer Abkehr von Spannung und Unsicherheit. Der Mangel sollte ein fester Bestandteil im Leben der Charaktere sein, stets am Rande des Sichtfelds stehen und bereit sein, die Spielerinnen zu überraschen.
Kontrollverlust: Dies ist eine starke Urangst, die sich langsam aufbaut. Dabei ist jedoch nicht gemeint, den Spielerinnen ihre Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu nehmen (Rail Roading). Die Charaktere sollen im Gegenteil durch ihre eigenen, für sie logischen Entscheidungen immer mehr Kontrolle verlieren beziehungsweise immer tiefer in den Abgrund des Chaos stürzen, bspw. weil ihre Handlungen problematische Folgen in der Spielwelt haben oder zu Trefferpunkten- oder Stabilitätsverlusten führen. Ein gutes Szenario befördert den Kontrollverlust, indem es die Spielerinnen vor Probleme stellt, die nicht alle gleichermaßen gelöst werden können oder bei denen man zwischen mehreren schlechten Optionen wählen muss (Dilemma). Hohe Stabilitätsverluste verursachen einen temporären Kontrollverlust oder eine dauerhafte Störung des Charakters und diese geben der Spielerin wiederum eine regelmechanische Rückkopplung der Abwärtsspirale innerhalb der Spielwelt.
Enttäuschung, Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit
Diese drei Urängste können das Ergebnis der oben beschriebenen Effekte sein. Sie tragen dem Gedanken des kosmischen Horrors Rechnung, in dem der Mensch eine unbedeutende Erscheinung darstellt. Ähnlich wie beim oben beschriebenen Kontrollverlust geht es aber nicht darum, den Spielerinnen diese Gefühle als Spielleiterin aufzuzwingen. Idealerweise sollten sie aufgrund von Charakterentscheidungen und -handlungen entstehen.
Gleichzeitig bieten diese Urängste ein neues Einfallstor für den kosmischen Horror – wer verzweifelt ist, greift vielleicht zu unmoralischen Mitteln oder gar grausamen unnatürlichen Ritualen, um im Angesicht seiner eigenen Unzulänglichkeit das Ruder herumzureißen und „Feuer mit Feuer zu bekämpfen“.
Auch mithilfe gut entworfener und ausgespielter Nichtspielercharaktere können diese Ängste bei den Charakteren getriggert und gut transportiert werden. Nichtspielercharaktere sind ein sehr wichtiger Bestandteil der Atmosphäre eines Szenarios. Sie ermöglichen eine Verankerung der Charaktere in ihrem Umfeld. Reaktionen der Nichtspielercharaktere auf die Charaktere oder auf das Unnatürliche sind mitunter effektvoll einsetzbar.
Es war schon immer hier!
Eine Facette des kosmischen Horrors ist es, dass der große Bezugspunkt des Menschen – die Erde – eben nicht das friedliche Refugium ist, in dem der moderne Mensch im Zentrum der Geschehnisse steht und selbst den Lauf der Geschichte beeinflusst. Vielmehr sind die Mächte des Mythos schon lange vor dem Menschen hier gewesen – und sie werden hier sein, wenn die Menschheit selbst einst Geschichte sein wird. Diese Erkenntnis wirkt umso mehr, wenn nicht nur die Charaktere selbst davon erfahren, sondern wenn auch ihre Umwelt es erfährt und entsprechend reagiert.
Atmosphäre und Gefühl
Die Stimmung ist von überragender Bedeutung, denn das wichtigste Kriterium der Glaubwürdigkeit ist nicht die Verzahnung der Handlung, sondern das Erzeugen eines bestimmten Gefühls. Ganz allgemein kann man sagen, dass eine unheimliche Geschichte, deren Absicht es ist zu belehren oder einen gesellschaftlichen Einfluss zu erzeugen, oder eine, in der die Schrecken am Ende auf natürliche Weise erklärt werden, keine echte Geschichte kosmischer Angst ist; [...] Das wirklich Unheimliche lässt sich allein daran erkennen, ob es im Leser ein tiefgreifendes Gefühl der Furcht auslöst, ein Gefühl des Kontaktes mit unbekannten Sphären und Mächten; eine subtile Haltung des ehrfürchtigen Lauschens nach dem Schlagen schwarzer Schwingen oder dem Kratzen fremder Formen und Wesen an den äußersten Rändern des bekannten Universums. Und je lückenloser und einheitlicher eine Geschichte diese Stimmung vermittelt, desto gelungener ist sie als Kunstwerk in diesem Genre.
Atmosphere is the all-important thing, for the final criterion of authenticity is not the dovetailing of a plot but the creation of a given sensation. We may say, as a general thing, that a weird story whose intent is to teach or produce a social effect, or one in which the horrors are finally explained away by natural means, is not a genuine tale of cosmic fear; [...] The one test of the really weird is simply this—whether or not there be excited in the reader a profound sense of dread, and of contact with unknown spheres and powers; a subtle attitude of awed listening, as if for the beating of black wings or the scratching of outside shapes and entities on the known universe’s utmost rim. And of course, the more completely and unifiedly a story conveys this atmosphere, the better it is as a work of art in the given medium.
– Supernatural Horror in Literature,
I. Introduction
Kein noch so solides Regelsystem und kein bis in das letzte Detail ausgeklügelter Handlungsverlauf kann eine gelungene Spielrunde garantieren. Die Atmosphäre, die ein Szenario vermittelt, und das Gefühl, das dabei in den Spielerinnen entsteht, können aber wesentlich zum Gelingen eines Szenarios beitragen. Daher sollten bereits beim Schreiben eines Szenarios die hier beschriebenen Punkte berücksichtigt werden.
Gefühl und Handlung
Die oben beschriebenen Urängste aber auch andere Gefühle und Sinneseindrücke können die Ereignisse eines Szenarios plastischer machen und sogar helfen, die Handlung voranzutreiben.
Bei der Beschreibung einer Szene sollte man deshalb nicht vergessen, verschiedene Sinne der Spielerinnen anzusprechen: Wie riecht es dort? Ist es laut oder leise, kalt oder warm? Welchen Geschmack nimmt man wahr und wie fühlen sich die Dinge an? Unter Umständen kann auch die lediglich beobachtete Reaktion eines nahe stehenden Nichtspielercharakters auf den kosmischen Schrecken eine indirekte Beschreibung des Grauens liefern.
Auch der Verlust von Trefferpunkten (TP), Willenskraftpunkten (WP) oder geistiger Stabilität (STA) kann mit dem verbundenen Gefühl beziehungsweise Schmerz beschrieben werden. Der Geschmack von Eisen im Mund, das warme, klebrige Rinnsal, das sich aus einer offenen Wunde ergießt oder das taube und gleichsam pochende Gefühl eines Knochenbruchs verbunden mit dem leisen Knirschen, das jede Bewegung erzeugt – Beschreibungen dieser Art erzeugen intensivere Emotionen als die einfache Angabe des Verlustes von 5 TP.
Gefühl vor Erklärbarkeit
Bei FHTAGN verfügen Wesen wie Große Alte oder Äußere Götter nicht über Spielwerte, so wie es bei den niederen Wesen der Fall ist. Azathoth, Cthulhu oder Yog-Sothoth sind viel zu mächtig, als dass man sie in einen regelmechanischen Rahmen pressen könnte. Stattdessen eignen sich vielmehr bestimmte Eigenschaften dieser Wesen, um eine entsprechende Stimmung zu erzeugen. Diese finden sich in den jeweiligen Beschreibungen im Abschnitt Unnatürliche Wesen.
Gerade in Bezug auf das Unnatürliche und unnatürliche Wesen kann die Spielleiterin auch eher seltene oder verzerrte Sinneseindrücke ansprechen: wie sich die feinen Haare auf dem Arm aufstellen, wenn man das Grauen mehr spüren als sehen kann; der Übelkeit und Schwindel verursachende Effekt sich verschiebender Dimensionen und Geometrien; eine veränderte – gedehnte oder beschleunigte – Wahrnehmung der Zeit in einem besonders kritischen oder bedrohlichen Moment; das unbestimmte Gefühl bei einer Begegnung mit einem Wesen des Mythos dieses – vielleicht glücklicherweise – gar nicht in allen Aspekten wahrnehmen oder begreifen zu können; ein Geräusch, das man mehr fühlen als hören kann oder das sich gerade knapp außerhalb der menschlichen Wahrnehmung abzuspielen scheint.
Diese subtilen, unscharfen Beschreibungen helfen das Unbegreifliche und Unverständliche zu transportieren und dennoch die Fremdartigkeit darin zu bewahren. Die Spielleiterin sollte sich deshalb bei einer anstehenden Begegnung der Charaktere mit dem Unnatürlichen bereits zuvor einige passende Begriffe und Beschreibungen zurechtlegen, um die Begegnung denkwürdig und unbegreiflich zu gestalten. Wichtig ist noch einmal zu betonen, dass das Unnatürliche keiner Logik oder einer menschlich nachvollziehbaren Erklärung folgen muss. Wenn also z. B. ein Wesen in einer Szene am Boden angetroffen wird, so kann es durchaus in der nächsten Szene problemlos als fliegendes Etwas dargestellt werden.
Am Spieltisch und darüber hinaus
Zu diesen eher allgemeinen Hinweisen für Spielleiterinnen wurde in verschiedenen Quellen bereits eine Menge geschrieben. Licht, Musik, Auftreten, Vorbereitung, Darstellung, Handouts – all diese Dinge können für die richtige, im Sinne der jeweils zur Gruppe und ihrem Spielstil passenden Atmosphäre beitragen. Auch hier gilt es vielfach erst das richtige Maß zu finden. Im Zweifel lieber etwas weniger als zu viel des Guten. Musik um der Musik Willen oder Handouts, wo es auch eine mündliche Zusammenfassung getan hätte, sind im besten Fall nur vergeudete Zeit und stören im schlimmsten Fall die Atmosphäre. Zur Situation und dem Szenario passende Überraschungen hingegen erzeugen Neugierde: Eingesprochene Handouts (Hear-Outs), ungewohnte Örtlichkeiten, Kerzenlicht, weitgehende Dunkelheit oder zur Abwechslung eine Episode mit Freeform-Elementen bereichern das Spektrum und fördern eine dichte Atmosphäre und intensives Spiel.
Gruppenvertrag
Von einem Gruppenvertrag spricht man, wenn der in aller Regel nicht aufgeschriebene Verhaltenskodex einer Rollenspielrunde gemeint ist. Zusammensetzung der Gruppe, termingerechtes Erscheinen, Vorbereitungen, Verhaltensweisen – all das wird gemeinhin zwischen den Teilnehmerinnen, wenn auch nur lose, geregelt. In Bezug auf das Horror-Rollenspiel wird man annehmen dürfen (manche würden sagen: annehmen müssen), dass die Spielgruppe sich gruseln möchte. Das bedeutet, sich den Merkmalen einer Weird Tale auszusetzen und im besten aller Fälle mit den Ängsten des eigenen Charakters und der Angst um den Charakter eine schöne Rollenspielrunde zu erleben.
Hierbei ist darauf zu achten, dass die Intensität von Horror sehr individuell aufgefasst wird (siehe Triggerwarnung). Schlussendlich ist jedoch das Setting von FHTAGN primär das des kosmischen Horrors. Das macht etwas mit den Charakteren und mit den Spielerinnen und eine Spielleiterin wird diesem Umstand Rechnung tragen müssen. Im Zweifel führt dies zu Situationen, in denen die persönliche Wohlfühlzone zumindest herausgefordert wird. Daher sind Gespräche über das gerade erlebte Szenario im Nachgang eine wertvolle Hilfe.
Um bereits im Vorfeld Grenzen einer Runde abzustecken und diese auch während des Spiels zu wahren, bietet sich die Verwendung von Sicherheitsmechaniken an. Siehe dazu auch den Abschnitt Sicherheitstechniken im FHTAGN Regelwerk.
Weitere Informationen: https://fhtagn-rpg.de/sicherheitstechniken/
Das Grauen zu den Charakteren bringen
Ich behaupte also, dass ich Edward Derby nicht ermordet habe. Vielmehr habe ich ihn gerächt und dadurch die Welt von etwas Grauenhaftem befreit, dessen Weiterleben möglicherweise unsäglichen Schrecken über die Menschheit gebracht hätte. Es liegen dunkle Bereiche der Schatten nahe unserer täglichen Pfade und gelegentlich gelingt einer bösartigen Seele der Durchbruch in unsere Welt. Wenn das geschieht, muss der Wissende zuschlagen, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen.
So I say that I have not murdered Edward Derby. Rather have I avenged him, and in so doing purged the earth of a horror whose survival might have loosed untold terrors on all mankind. There are black zones of shadow close to our daily paths, and now and then some evil soul breaks a passage through. When that happens, the man who knows must strike before reckoning the consequences.
– The Thing on the Doorstep,
Howard Phillips Lovecraft, 1937
In vielen Geschichten Lovecrafts ist es ein gewisser Hang zum Morbiden und Unbekannten, der die Protagonisten ins Verderben zieht. Manchmal jedoch ist es auch schlichter Zufall. Da man auch in einem an Lovecraft orientierten Rollenspiel nicht jedem Charakter okkulte Interessen unterstellen kann, bietet es sich an, häufiger einmal nicht die Charaktere zum Grauen zu bringen, sondern das Grauen zu den Charakteren. Der plötzliche Einbruch des kosmischen Horrors in den Alltag eines Charakters kann sehr verstörend sein und Zwischenszenen, Bindungen des Charakters oder das FHTAGN-Netzwerk eignen sich hierfür hervorragend. Der Einbruch des Grauens in den Alltag kann auch als Aufhänger für ein Szenario dienen. Wenn dazu der Einfluss des Grauens auf Bindungen oder andere Nichtspielercharaktere verdeutlicht wird, gibt es kaum noch einen Rückzugsort in eine „heile Welt“ für den Charakter – vor dem Wirken kosmischer Mächte schützen weder Wände noch Waffen.
Dilemmas erzeugen
Wegsehen ist im Zusammenhang mit dem Unnatürlichen – speziell, wenn es einen unmittelbar bedroht – jedoch auch keine Option. In Lovecrafts Geschichten sind diejenigen, die das Grauen erkannt haben, oft dazu genötigt es zu bekämpfen – auch wenn ihre selbstzerstörerischen Bemühungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein können.
Häufig wird die Auseinandersetzung mit dem Unnatürlichen problematische Entscheidungen beinhalten. Welche Entscheidung auch getroffen wird, sie ist doch niemals perfekt. Entweder es leiden andere darunter oder der Charakter selbst. Das Grauen zu bekämpfen muss schmerzhaft sein – es kostet nicht weniger als die körperliche und geistige Unversehrtheit. Die Veränderung eines Charakters über die Zeit, die auch als Abwärtsspirale bezeichnet wird, ist vorgezeichnet und unausweichlich. Die geistige Stabilität sinkt, die Motivationen erodieren mit der Zeit und machen Platz für Störungen. Zur Darstellung dieses Effektes kann daneben auch die Abhärtung herangezogen werden. Sie macht unmittelbar etwas mit dem Charakter, denn Abhärtung bedeutet auch Abstumpfung. Gleiches lässt sich auch zu Beginn eines Charakterlebens über die Facetten Gewalterfahrungen und Hilflosigkeitserfahrung steuern.
Hinter den Schleier blicken
Das Barmherzigste in der Welt ist, glaube ich, die Unfähigkeit des menschlichen Geistes, alle seine Inhalte in Beziehung zueinander zu setzen. Wir leben auf einer ruhigen Insel der Unwissenheit inmitten der schwarzen Meere der Unendlichkeit, und es war uns nicht vorherbestimmt, dass wir weit reisen sollten. Die Wissenschaften, die sich jeweils in ihre eigene Richtung entwickeln, haben uns bisher wenig geschadet; aber eines Tages wird das Zusammenfügen des verstreuten Wissens einen derart beängstigenden Blick auf die Realität und unsere fürchterliche Rolle darin eröffnen, sodass wir entweder durch diese Offenbarung verrückt werden oder vor dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen dunklen Zeitalters fliehen werden.
The most merciful thing in the world, I think, is the inability of the human mind to correlate all its contents. We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far. The sciences, each straining in its own direction, have hitherto harmed us little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into the peace and safety of a new dark age.
– The Call of Cthulhu, I. The Horror in Clay,
Howard Phillips Lovecraft, 1928
Hinter den Schleier zu blicken kann am einfachsten mit dem Schälen einer Zwiebel verglichen werden. Schale um Schale pellt sich im Verlauf eines Szenarios oder einer ganzen Kampagne die vermeintliche Realität von der schrecklichen Wahrheit ab und lässt das kosmische Grauen dahinter zum Vorschein kommen. Neben der eigentlichen Handlung in einem konkreten Szenario kann dieser Effekt auch in Zwischenszenen immer wieder angedeutet werden. Auch das FHTAGN-Netzwerk zielt im Besonderen darauf ab, das Bild des Schleiers aufzubauen, hinter den vorsichtig geschaut oder der im Zweifel gar zerrissen werden kann.
Gleichgültigkeit des Kosmos
Die letzte schreckliche Erkenntnis hinter dem Schleier lautet, dass der Mensch nur eine Randnotiz im Universum darstellt. Die Belange der Charaktere, ja der Menschheit, haben keine Bedeutung. Sie sind dem Kosmos schlicht gleichgültig. Dies gilt umso mehr für die Motivationen von Großen Alten – die Menschen sind ihnen egal und ihre Motive für uns unverständlich. Der menschliche Verstand vermag die Hintergründe und Verhaltensweisen Großer Alter nicht im Ansatz zu begreifen, daher ist auch jede Erklärung dafür überflüssig. Je weiter sie den Schleier lüften, desto mehr wird den Charakteren im Laufe des Spiels die gnädige Unwissenheit genommen. Der Austausch von Motivationen gegen Störungen im Verlauf des Spiels führt den Spielerinnen die Sinnlosigkeit des menschlichen Tuns und die Zerbrechlichkeit des Menschen vor Augen.
Typischerweise versuchen Menschen Ereignissen einen Sinn zu geben, z. B. indem sie diese mit Konzepten von Religion oder Schicksal hinterlegen oder auf andere Weise in ihr Weltbild einbetten. Doch im kosmischen Grauen liegt kein Sinn. Die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet. Der Spielleiterin sollte deshalb bewusst sein, dass mit jeder Erklärung oder Rechtfertigung ihrer Handlungen innerhalb eines Szenarios ein Stück dieser Gleichgültigkeit verloren geht. Für menschliche Antagonisten der Charaktere mag man vom Gesagten abweichen, doch auch ein wahnsinniger menschlicher Anhänger der Großen Alten handelt wahrscheinlich aus Motiven, die einem gesunden Verstand unverständlich bleiben müssen.
Realität und historische Bezüge
Gerade kosmischer Horror im Universum von H. P. Lovecraft eignet sich für das Einbetten von und das Verweben mit historischen Bezügen. Dies kann enorm zur Atmosphäre eines Szenarios beitragen, da dadurch die Glaubwürdigkeit der Umgebung und Handlung erhöht wird. Dies wiederum erleichtert die Immersion der Spielerinnen in das Spiel. FHTAGN selbst ermöglicht das Spiel in allen Epochen und Settings. Die jeweils vorhandenen Schlüsseltechnologien und besonderen Errungenschaften (siehe FHTAGN Regelwerk) können sowohl Inspirationsquelle sein als auch konkrete Hinweise auf solche Bezüge liefern.
Yog-Sothothery
Man glaube ja nicht, der Mensch sei der älteste oder der letzte Herr über die Erde oder dass die gewöhnliche Masse an Leben und Materie allein auf Erden sei. Die Großen Alten waren, die Großen Alten sind, und die Großen Alten werden sein. Nicht in den Räumen, die wir kennen, sondern zwischen ihnen, bewegen sie sich gelassen und urtümlich, schrankenlos und von uns ungesehen.
Nor is it to be thought that man is either the oldest or the last of earth's masters, or that the common bulk of life and substance walks alone. The Old Ones were, the Old Ones are, and the Old Ones shall be. Not in the spaces we know, but between them, they walk serene and primal, undimensioned and to us unseen.
– The Dunwich Horror,
Howard Phillips Lovecraft, 1929
Lovecrafts eigentlicher Name für die Wesen, die er erschaffen hatte, lautete Große Alte (Old Ones oder Great Old Ones). Damit meinte er sowohl einzelne Entitäten, die bereits seit Äonen auf der Erde schlummern, als auch äußere kosmische Mächte im Zentrum des Universums. Die Großen Alten sind also ein Sammelbegriff für das Unnatürliche, ohne damit eine Struktur, eine Hierarchie oder gar ein Pantheon zu meinen. Lovecraft selbst bezeichnete seine Idee als Yog-Sothothery (manchmal auch als Cthulhuism & Yog-Sothothery). Erst nach seinem Tod wurde dies zu dem heute üblicheren Begriff des Cthulhu-Mythos abgewandelt. Lovecrafts Entitäten wurden in der Folge in verschiedene Formen von Klassifizierungen gepresst.
FHTAGN folgt der ursprünglichen Sichtweise Lovecrafts und verzichtet auf die Einteilung in Große Alte, Äußere Götter oder niedere Wesen. Zum einen ist diese Struktur nur ein bemühter Versuch, Ordnung in das Chaos dieser kosmischen Mächte zu bringen, und zum anderen ist jede Autorin, Spielleiterin und Spielerin dazu aufgerufen, sich selbst einen Weg in die Welt der Yog-Sothothery zu bahnen. Der Mythos lebt durch Veränderung, durch Ergänzung und durch Gebrauch. Das Wirken der kosmischen Kräfte ist unerklärlich und entzieht sich menschlichen Kategorisierungsversuchen. Der Mythos sollte deshalb nicht durch einzelne Institutionen oder Autoritäten, die ein Muster darin erkennen wollen, in Schubladen sortiert werden.
Für den Bereich des Rollenspiels mag der Verzicht auf eine solche Einteilung zunächst unpraktisch erscheinen. In der Philosophie von FHTAGN wird jedoch bei so mächtigen Wesen wie den Großen Alten ohnehin auf die Angabe von Werten verzichtet. Die regeltechnischen Fähigkeiten und Kräfte der anderen Kreaturen und Wesen ergeben sich aus ihren jeweiligen Beschreibungen, die jede Spielleiterin für sich selbst beurteilen, verwenden und weiter entwickeln soll und darf.
Seit Call of Cthulhu von Chaosium im Jahr 1981 den Reigen der cthuloiden Rollenspielpublikationen eröffnet hat, sind unzählige weitere Systeme, Ergänzungsbände und Szenarien erschienen. Die Bandbreite an unterschiedlichen Settings, Ausrüstungsgegenständen, Ritualen oder Wesen ist schier endlos. Dies ist eine sehr komfortable Situation für alle Spielleiterinnen, die sich aus dieser Fülle die jeweils für sie und ihre Gruppe passendsten Elemente herauspicken können. FHTAGN bietet hierbei einen soliden Regelkern und viele Stellschrauben, um die eigene Vorstellung von Yog-Sothothery bestmöglich zu unterstützen. Das Prozentsystem lässt die größtmögliche Kompatibilität zu anderen Regelsystemen zu, während es gleichermaßen einfach zu erklären und schnell mit eigenen Vorstellungen zu erweitern ist.
Die in FHTAGN aufgeführten Werte von Wesen oder Ausrüstungsgegenständen sind mit großer Sorgfalt erstellt worden. Das muss aber keinesfalls heißen, dass diese Eigenschaften dogmatisch zu akzeptieren wären. Eine Autorin oder Spielleiterin kann (und sollte), um Atmosphäre zu schaffen und ihre eigene Geschichte zu erzählen, stets den besten Weg für sich wählen. Und wenn das bedeutet, dass etwas Bekanntes auf einmal neu und überraschend, vielleicht sogar unglaublich mächtig und gefährlich wird, dann ist dies exakt im Geiste des Mythos, der seit über 100 Jahren von verschiedenen Autoren und Autorinnen geprägt wird. In diesem Sinne: Erschaffe deine eigene Yog-Sothothery!
Urheberrecht
Die Rechtslage in Punkto Cthulhu-Mythos ist teilweise so eigenartig wie Lovecrafts Geschichten. FHTAGN hat sich daher unter anderem zum Ziel gesetzt, nur diejenigen Elemente zu verwenden, bei denen zweifelsfrei klar ist, dass sie aus mittlerweile gemeinfreien Quellen stammen. Nach aktueller Rechtslage tritt in Deutschland die Gemeinfreiheit 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers ein. Dies gilt für die folgenden Autoren.
- Ambrose Gwinnett Bierce (1842 – 1914)
- Robert William Chambers (1865 – 1933)
- Robert Ervin Howard (1906 – 1936)
- Howard Phillips Lovecraft (1890 – 1937)
- Arthur Machen (1863 – 1947)
Im Fall von Robert E. Howard existiert jedoch vielfach ein verlängertes Copyright, was eine sorgfältige Prüfung seiner Werke vor einer Verwendung ratsam erscheinen lässt.
In den USA tritt Gemeinfreiheit (Public Domain) bereits nach 50 Jahren ein, allerdings ist unklar, was dies für eine Veröffentlichung in Deutschland bedeutet. Daher wurden die folgenden Autoren und Autorinnen explizit nicht für FHTAGN berücksichtigt.
- Algernon Blackwood (1869 – 1951)
- Lord Dunsany (1878 – 1957)
- Clark Ashton Smith (1893 – 1961)
- Hazel Heald (1896 – 1961)
- Zealia Bishop (1897 – 1968)
Stealing Cthulhu
Stealing Cthulhu von Graham Walmsley ist ein im Jahr 2011 erschienenes Buch, welches praktische Tipps für die Abwandlung und Neuausrichtung von eingefahrenen Handlungssträngen und tradierten Sichtweisen auf den Cthulhu-Mythos bietet. Es ruft dazu auf, sich
- einer Idee von Lovecraft anzunehmen, sie zu verändern und dann zu verwenden,
- ein Element daraus mit einem besonderen Fokus zu versehen,
- verschiedene Elemente aus unterschiedlichen Ideen miteinander zu kombinieren oder
- ein Thema von Lovecraft aufzugreifen und es mit etwas völlig Neuem zu erweitern.
Die Essenz von FHTAGN
Zusammengefasst lässt sich die Sicht auf kosmischen Horror bei FHTAGN mit den folgenden Punkten beschreiben. Das heißt nicht, dass sich alle anderen Facetten von Horror beziehungsweise dem Rollenspiel im Allgemeinen völlig ausschließen – im Gegenteil. Es heißt nur, dass dies die essenziellen Elemente sind, die die Angst vor dem Unnatürlichen in einem typischen FHTAGN Szenario zum Vorschein bringen können.
- Unnatürlich: Wenigstens ein Element in einem Szenario ist unnatürlichen Ursprungs.
- Subtilität: Weniger explizite Beschreibungen, mehr vage Andeutungen.
- Veränderung: Bekannte Sichtweisen umgestalten, um selbst Neues zu erschaffen.
- Erwartungshaltungen: Die Erwartungen der Spielerinnen sollten unterlaufen werden.
- Handlungsfreiheit: Die Charaktere müssen überwiegend selbstständig Entscheidungen treffen können.
- Konsequenzen: Die Handlungen der Charaktere müssen Konsequenzen haben.
- Mangel: Die Umstände sind niemals perfekt.
- Kontrollverlust: Die gefühlte Kontrolle schwindet.
- Dilemma: Die Entscheidungen und Handlungen der Charaktere führen ein Dilemma herbei.
- Emotionen: Gefühl geht vor Handlung oder Erklärung.
- Das Grauen zu den Charakteren bringen: Der Einbruch in den Alltag kann sehr verstörend sein.
- Hinter den Schleier blicken: Langsam die schreckliche Wahrheit enthüllen.
- Gleichgültigkeit des Kosmos: Den Großen Alten ist die Menschheit gleichgültig.
- Yog-Sothothery: Erschaffe deinen eigenen Mythos!