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Iä! Iä! Cthulhu fhtagn!
Lieber Henry!
Sicher wundert es dich, auf diese Art wieder von mir zu hören, schreibe ich diesen Brief doch viele Jahrzehnte, nachdem eine glückliche Fügung unser Kennenlernen während meines Auslandssemesters ermöglichte. Seither war uns Beiden leider nie die Zeit beschieden, einen engeren Kontakt zu pflegen. Dennoch habe ich dich als integren, vertrauenswürdigen und absolut verschwiegenen Freund in Erinnerung, so dass ich dich als Empfänger dieser Zeilen ausgewählt habe. Bitte nimm es einem alten Mann nicht übel, dass ich dir gleich zu Beginn dieses Schreibens ein Versprechen abnötigen muss: Vernichte diesen Brief, gleich nachdem du ihn gelesen hast. Unternehme alle Schritte, die dir als Reaktion auf meine Schilderungen nötig erscheinen. Suche nicht nach mir, alter Freund.
Nachdem das gesagt ist – und ich bin mir sicher, du wirst diese Zeilen nur lesen, nachdem du meinem Wunsch entsprochen hast – will ich ohne große Umschweife zu dem Grund für mein wahrlich absonderliches Verhalten kommen. Sicher erinnerst du dich an mein Studienfach – die Entomologie. Da wir in den Jahren seit unserem gemeinsamen Semester in Neuengland kaum Kontakt zueinander hatten, will ich dir sagen, dass ich mein Studium mit Bestnote abschloss und später einen Doktortitel in meinem besonderen Steckenpferd, der Koleopterologie erhielt. Eine Professorenstelle an der Universität in Freiburg erlaubte mir in den nächsten Jahrzehnten ausreichend finanziellen Spielraum, um anregende Forschungsreisen in exotische Länder aber auch wissenschaftliche Exkursionen direkt vor die eigene Haustür zu unternehmen. Die Welt der Käfer und Insekten ist selbst in unseren heimischen Gefilden nahezu unerforscht und immer wieder stellte ich fest, wie wenig wir eigentlich von diesem faszinierenden Mikrokosmos um uns herum wissen. So waren also die Jahrzehnte bis zu meiner Pensionierung erfüllt von wissenschaftlichem Eifer und aufregenden Entdeckungen.
Der Ruhestand jedoch behagte mir überhaupt nicht, ja, fast setzte er mir mehr zu als alle Strapazen, die ich während meiner Reisen auf mich nehmen musste. Rasch wurde mir bewusst, dass mir die finanzielle Unabhängigkeit, die ich lange genossen hatte, ebenso abhanden gekommen war wie die innere Energie, die mich immer wieder antrieb, neues zu entdecken. Ich fühlte mich ausgebrannt, erschöpft, leer. Während mancher Freund mir den Gang zum Psychologen anriet – ein mir absolut unvorstellbarer Gedanke, wie du sicher weißt – versuchte ich mich am eigenen Schopfe aus den Depressionen zu ziehen. Mit mir selbst unzufrieden, abgeschnitten von der wissenschaftlichen Welt die einst mein Leben war und unglücklich über meine Lebenssituation stürzte ich mich wiederum in die Forschung. Meinem geringen finanziellen Spielraum geschuldet musste dieser Forscherdrang jedoch vorerst in den eigenen vier Wänden ausgelebt werden und ich begann, meine ohnehin recht umfangreiche entomologische Bibliothek zu ergänzen und zu erweitern.
Da mir die gängigen wissenschaftlichen Bücher natürlich ohnehin zur Verfügung standen, ich aber wusste, dass hier gerade einmal die Oberfläche des möglichen Wissens angekratzt wurde, führte mich meine Suche nach erweiternder Literatur durch viele Antiquariate und dubiose kleine Buchhandlungen. Ein solches staubiges, nach muffigen Folianten riechendes Ladenlokal war es dann letztlich auch, in dem ich auf ein unscheinbares Buch mit dem unmöglichen Titel „Coleoptera Mystica“ stieß. Zu früheren Zeiten hätte ich über den Titel vermutlich gelacht, doch ich war in einer Situation, die meinen Geist auch für die abstrusesten Theorien öffnete. Ich erstand das Buch für kleines Geld und machte mich in den nächsten Tagen an das Studium. Das Buch war von unscheinbarer Erscheinung: in fleckiges, braunes Leder gebunden, die Seiten vergilbt, ein zerfasertes Lesebändchen sollte die Lektüre erleichtern. Es war in Frakturschrift gedruckt und muss wohl von einem alten Mönch stammen, der – ähnlich wie ich – von der Welt der Käfer und Insekten fasziniert war und alles darüber niederschrieb, was er in Erfahrung bringen konnte. Den Namen dieses Mönches kann ich diesem Papier leider nicht anvertrauen, muss ich doch befürchten, dass deine wissenschaftliche Neugier dich zu Nachforschungen über diese Person antreiben würde. Ich versichere dir, diese unbotmäßige Bevormundung geschieht zu deinem Besten. Tatsächlich fand sich unverhältnismäßig viel Unsinn in dem Büchlein, wie du dir sicher denken wirst. Doch es gab auch einige Lichtblicke, Einsichten, die ich einem mittelalterlichen Mönch nicht zugestanden hätte, hätte ich nicht sein Werk in Händen gehalten. Alles in allem hätte ich das Buch aber nicht für weiter erwähnenswert gehalten – und doch stellt es den Grund für die nachfolgenden Ereignisse dar, die ich dir zu schildern gezwungen bin.
Ein Kapitel in besagtem Buch nämlich behandelte die Käfer eines kleinen Landstriches in der französischen Provence, eine Region, die ich trotz meiner ausgedehnten Forschungsreisen noch nie entomologisch erkundet hatte. Von wunderlichen Kreaturen war hier die Rede und von Käfern abnormer Größe, deren Wachstum wohl durch das warme Klima begünstigt würde und die daher geradezu gigantische Ausmaße annehmen sollten. Ein Blick in meinen modernen Atlas verriet mir, dass die Gegend auch heute nur dünn besiedelt ist und möglicherweise immer noch die eine oder andere entomologische Überraschung bereithalten könnte. Daher fasste ich rasch den Entschluss, die selbstgewählte Isolation meines Studierzimmers hinter mir zu lassen und mich für ein paar Tage in einem verschlafenen Nest im Tal des Flusses Ardèche, Salazac, einzumieten. Hier nämlich sollte ich auf die ungewöhnlichen Coleoptera treffen, die der Mönch in seinen Aufzeichnungen erwähnt hatte.
Kaum vor Ort angekommen wurde mir rasch klar, dass ich mich führwahr in einem entomologischen Paradies befinden musste. Die Luft war warm und trocken, und kaum dass ich die Türe meines Wagens öffnete, drang das vertraute Geräusch zirpender Grillen, la Cigale, an meine Ohren. Diese sitzen nämlich zu Myriaden auf den ausgetrockneten Bäumen der Region und veranstalten ein kakophonisches Konzert, dass dem ungeübten Zuhörer wohl wie eine Sinfonie des Schreckens erscheinen muss. Du wirst dir aber sicherlich vorstellen können, dass mir aber das Aufeinanderschlagen unzähliger Flügel wie klarste Glockenschläge in meinen Ohren klang und mein wissenschaftlicher Ehrgeiz, dessen Feuer durch die Lektüre des seltsamen Buches ohnehin angefacht war, in heller Flamme aufloderte. Welch Wohltat war es für mein gemartertes Gehirn, endlich wieder in freier Natur der Forschung frönen zu können, und mich packte echte Vorfreude auf die nächsten Tage.
Doch meine Euphorie erhielt bereits an diesem Abend einen kleinen Dämpfer, stellte es sich doch heraus, dass die Einwohner dieses Dorfes ein maulfauler, wortkarger und unfreundlicher Haufen waren. Mein französisch ist sicherlich nicht das beste, doch wäre ich sicherlich in der Lage gewesen, ein wenig Konversation mit den Menschen hier zu betreiben. Doch mein Vermieter, ein gebückter, kleiner alter Mann, nahm zwar mit gierigem Funkeln in seinen trüben Augen meine Francs entgegen – an meiner Gesellschaft oder einem freundlichen Wort war ihm aber offensichtlich nicht gelegen. Meine Unterkunft, deren marode, hölzerne Tür mir der Alte aufschloss, war ein winziges Zimmerchen mit einem rostigen Bettgestell, schmutzigen Laken, einem kleinen runden Fenster mit einer blinden Scheibe, einer Waschschüssel und einem klapprigen Tisch nebst Stuhl, der wohl auch als Garderobe dienen musste. Auch, wenn mir der Preis für diese zwergenhafte Kemenate arg hoch vorkam, beschied ich mich mit der Engelsgeduld der Forschenden in mein Schicksal, suchte ich doch ohnehin nur ein Dach über dem Kopf, um die Nächte trocken zu verbringen. Tagsüber strebte ich die Begegnung mit den Coleoptera, wenn möglich den riesenhaften, an.
Nachdem ich meinen Koffer in mein Zimmer gebracht hatte, entschied ich mich, Salazac noch ein wenig zu erkunden. Das Dorf war winzig, vielleicht lebten hier einhundert Menschen. Gedrungene, einstöckige, aus grobem Gestein gemauerte Häuschen schmiegten sich an den Fels der provenzalischen Voralpen, ja, wirkten fast wie organisch aus ebenjenem herausgewachsen. Eine Kirche mit einem niedrigen Turm stand am Rand des Weilers. Das Tor war verschlossen und die Fenster so verschmutzt, dass mir ein Blick ins Innere verwehrt blieb. Ich suchte daraufhin die einzige Wirtschaft Salazacs auf, doch die Erfahrungen, die ich mit meinem Vermieter gemacht hatte, wiederholten sich. Die dumpf gemurmelten Gespräche der vier oder fünf Anwesenden verstummten, als ich den Gastraum betrat. Man beäugte mich misstrauisch, auch bedachte man mich hier ebenfalls kein freundliches Wort. Auch meine Versuche, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen, scheiterten kläglich. Auf seltsame Käfer angesprochen, die es hier in der Gegend geben könnte, zuckten meine Gegenüber zwar mit den Schultern, ich konnte mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass sie verstohlene Blicke miteinander austauschten. So verbrachte ich den Abend einsam. Einzig der Wirt schenkte mir ein geradezu grenzdebiles Lächeln, als er mir später die Rechnung für eine sehr karge Mahlzeit präsentierte.
Nach diesen Erfahrungen wirst du dir sicher denken können, dass ich mich mit vollem Ehrgeiz in meine wissenschaftlichen Untersuchungen stürzte. Ich verließ meine bescheidene Herberge früh am Morgen und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Die Provence, und eben insbesondere das Tal der Ardèche, erwies sich führwahr als Fundgrube für einen Entomologen. Erstmals konnte ich seltene Insekten, die ich zwar aus Lehrbüchern kannte aber noch nie beobachtet hatte, in ihrem Lebensraum in Augenschein nehmen. Der außergewöhnliche Artenreichtum und die schiere Masse der Tiere hätte mich wohl auf Jahre hinaus beschäftigen können. Und jede neue Entdeckung, jeder Blick auf ein neues Mosaiksteinchen des Lebens, ja, jeder Moment war begleitet von dem Konzert der Grillen, die wohl zu Hunderten auf jedem Baum in diesem Tal leben mussten. So flogen die wenigen Tage, die mir mein bescheidenes Budget als Zeitfenster für diese Exkursion aufdiktierte, rasch dahin. Am Abend des vierten Tages wurde ich dennoch von echter Unruhe erfasst. Noch immer hatte ich keinen der monströsen Riesenkäfer entdeckt, von denen der Mönch in seinem Buch berichtet hatte. Mir blieben nur noch zwei Tage, um den eigentlichen Grund meiner Reise aufzuspüren. Ansonsten hätte ich zwar mit vielen interessanten Eindrücken aber letztendlich mit leeren Händen wieder zurückkehren müssen. Henry, du wirst dir sicher vorstellen können, was diese wissenschaftliche Niederlage für meinen ohnehin sensiblen Gemütszustand bedeutet hätte, bist du doch selbst Wissenschaftler mit Leib und Seele.
Auch der nächste Tag verstrich, ohne dass ich einem Käfer ungewöhnlicher Ausmaße angesichtig wurde. Doch heute, am geplanten Vortag meiner Abreise, hatte ich endlich Glück. Die Ereignisse, die sich an meinen Fund anschlossen, lassen mich sowohl daran zweifeln, dass es wirklich heute vormittag war, als ich leibhaftig auf die Andeutungen des mittelalterlichen Mönches stieß, als auch daran, dass es sich um ein Glück gehandelt haben soll. Ich war mit meinem Wagen zu einem nahegelegenen Waldstück unterwegs, dass ich bislang noch nicht untersucht hatte. Neben der Hoffnung, hier weiterhin interessante Funde und Entdeckungen zu machen, wollte ich außerdem ein altes Kloster besichtigen. Dieses Kloster war bereits vor Jahrhunderten aufgegeben worden, sollte aber architektonisch interessant sein und einen herrlichen Ausblick auf das umliegende Tal der Ardèche ermöglichen. Als ich gerade Salazac verlassen hatte und meinen Wagen auf die enge Landstraße in Richtung des Klosters gelenkt hatte, flog etwas mit voller Wucht gegen die Frontscheibe des Wagens. Das stabile Glass bekam gefährlich aussehende Risse und ich hielt sofort an, um mir den Schaden anzusehen und natürlich das Objekt, dass ihn verursacht hatte.
Henry, du wirst dir meine Verwunderung und meine Freude vorstellen können, wenn ich dir nun davon berichte, was da in meinen Wagen geprallt war: rechts neben dem Automobil lagen die Überreste eines gigantischen Lucanus cervus, eines Hirschkäfers. Das Exemplar war von außergewöhnlicher Größe und maß von dem prächtigen Geweih bis hin zu den Hinterläufen sicherlich 40 Zentimeter. Damit überstieg es die normale Größe dieser Art um ein vielfaches. Mein Herz macht einen Freudensprung – der geheimnisvolle Mönch hatte Recht behalten und mir schien es nun beschieden zu sein, diese Entdeckung der wissenschaftlichen Welt endgültig zugänglich zu machen. Eiligst verlud ich die Überreste des herrlichen Tieres in meinen Wagen und kehrte unversehens nach Salazac zurück. Da ich mir nicht anders zu helfen wusste, betrat ich erneut die Wirtschaft, deren Gastraum ich in den letzten Tagen bewusst gemieden hatte, um mir einige Plastiktüten und Eis zu besorgen, da ich den Kadaver unbedingt vor der warmen Witterung schützen musste. Möglicherweise blieb er ja meine einzige Entdeckung und so konnte ich es mir nicht leisten, den toten Lucanus cervus einem raschen Verfall anheim zu geben. Mir war durchaus bewusst, dass meine Anwesenheit den Leuten hier auf irgendeine Art, die ich nicht verstand, Unbehagen bereitete und natürlich rechnete ich nicht damit, dass ich durch extravagante Wünsche den Grad ihrer Freundlichkeit steigern würde. Doch als ich dem Wirt endlich verständlich gemacht hatte, was ich von ihm wollte und wofür ich diese Gegenstände benötigte, ließ mich der ungehobelte Kerl einfach stehen. Alle Anwesenden in der Schankstube standen geschlossen auf und verließen den Raum, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Ich stand noch einige Momente verwirrt und alleine in dem dunklen, staubigen Wirtsraum, bevor ich mich dazu durchringen konnte, den ungehobelten Burschen auf die Straße zu folgen. Hier konnte ich beobachten, wie die Kerle ausschwärmten und an den Häusern Salazacs entlang liefen. Sie klopften an jede Tür und murmelten einige dumpfe, mir nicht verständliche Worte. Ob es französisch war, dass sie benutzten, kann ich unmöglich sagen. Ich sah, wie aus vielen der gedrungenen Häuschen Bewohner auf die Straße hinaustraten. Alte und gebückte Männer, aber auch einige junge und kräftige Burschen waren darunter. Bald hatte sich eine ansehnliche Menge auf dem kleinen Dorfplatz versammelt. Sie berieten aufgeregt miteinander, ich sah, wie sie wild gestikulierten. Dann zog die ganze versammelte Schar in Richtung Osten, die einsame Landstraße hinunter, auf der ich vor wenigen Minuten meinen Zusammenprall mit dem gigantischen Lucanus cervus gehabt hatte. Verwundert und irritiert, aber auch neugierig entschloss ich mich, ihnen zu folgen. Oh, wäre ich doch nur in meinen Wagen gestiegen und hätte früher als geplant meine Heimreise angetreten. Henry, dieser Brief hätte dich so wohl nie erreicht und ich verfluche meine Neugier dafür, dass ich dir dieses schreckliche Wissen aufbürden muss.
Die Abenddämmerung brach bereits herein, als ich der seltsamen Prozession also die Landstraße hinab folgte, direkt auf das kleine Waldstück und das hier gelegene Kloster zu, welche ohnehin mein heutiges Ziel gewesen wären. Sie stapften stumm über den staubigen Asphalt und mir schien es, als könnte ich grimmige Entschlossenheit in ihren Gesichtern erkennen, obwohl mir doch nur ihre Rücken zugewandt waren. Sie bogen auf einen kleinen Trampelpfad ab, der direkt in den Wald hinein führte. Mein mulmiges Gefühl niederkämpfend folgte ich ihnen weiter, war ich doch bestrebt zu erfahren, warum mir jegliche Hilfe versagt worden war. Schon nach wenigen hundert Schritten erreichten die Männer die Ruine eines alten Benediktinerklosters. Ich erkannte sofort die alten Symbole in den blinden Milchglasfenstern. Es musste schon vor Jahrhunderten aufgegeben worden sein: Viele Fenster waren zertrümmert, weite Teile der Dachböden waren eingestürzt und auch die Hauptmauer gleich neben dem aus den Angeln gehobenen Tor war teilweise zerstört. Efeu und wilder Wein hatten längst begonnen, das wuchtige Gebäude zu überwuchern und das ganze Bild hatte etwas von wildem Verfall, wie ich ihm bislang nur auf meinen Exkursionen in den südamerikanischen Regenwald begegnet war. Die noch immer stumme Meute steuerte zielstrebig auf die Ruine zu und verschwand bald in ihrem Inneren.
Ich folgte ihnen mit gebührendem Abstand, hatte ich doch kein Interesse daran, dass mich die Männer entdeckten. Langsam schritt ich durch das in Trümmern liegende Haupttor und trat dann in ein hohes Gebäude, dass wohl in früheren Jahren als Gebetskirche gedient haben musste. Von dem einstmals zweifelsohne stolzen Kirchturm war aber nur eine Ruine geblieben, die sich ängstlich in den Schatten der umliegenden Gebäude kauerte. Mir schauderte, als ich durch die Tür trat, war der Raum doch in einem ruinösen Zustand. Der Altar lag in Trümmern, die Holzbänke waren zersplittert. Staub tanzte in der Luft und lag in einer zentimeterdicken Schicht auf Boden und Mobiliar. Eine schmale Treppe führte gleich vor dem Altar hinab in eine unbekannte Finsternis und doch verriet mir das flackernde Leuchten entzündeter Fackeln, dass die Prozession der Dorfbewohner hier hinabgestiegen sein musste. Die Furcht rang nun erneut mit der Neugier, doch ich hätte es mir nicht verzeihen können, an diesem Punkt den Rückzug anzutreten und mein Heil in der Flucht zu suchen. So begann ich den Abstieg in die Katakomben des Klosters.
Ich kann kaum abschätzen, wie weit die Treppe in das Innere der Erde hinabführte. Immer wenn ich befürchtete, den Anschluss an die furchtbare Gruppe verloren zu haben, bemerkte ich den schwachen Widerschein ihrer Fackeln vor mir. Selbst in absolute Finsternis gehüllt, stolperte ich die unregelmäßigen Stufen immer weiter hinunter, bis ich mich unversehens in einer gewaltigen Halle wiederfand. Die Decke dieser Katakombe stygischen Ausmaßes war nicht zu erahnen und auch ihren Wänden konnten meine Augen in der Dunkelheit nicht weiter folgen als wenige Schritte. Etwa einhundert Meter vor mir konnte ich nun die versammelten Dorfbewohner mit ihren Fackeln erkennen. Oh, hätte mich doch das Schicksal vor dem Anblick bewahrt, den ihr schwaches Feuer mir ermöglichte. Ich hätte meine gesammelten wissenschaftlichen Erfolge liebend gerne hergegeben, hätte den Rest meines Daseins mit meiner bescheidenen Rente stumm in meinem Zimmer verbracht, wäre mir nur dieser Anblick erspart geblieben. Doch meine Neugier, nein, meine Narretei hatte mich hierher geführt, an diesen Ort gotteslästerlicher Dinge und nie wieder würde ich der sein können, der noch vor wenigen Augenblicken zaudernd vor dem Eingang des Klosters stand und seine weise Furcht niederkämpfte.
Henry, was ich sah, ist fast zu schrecklich um es diesem Papier anzuvertrauen. Und doch will ich es zumindest versuchen, muss ich dir doch begreiflich machen, welch Unheil in diesen Katakomben in der französischen Provence darauf wartet, die Welt der Menschen heimzusuchen. Nur wenige Herzschläge lang nahm ich die unglaubliche Szene in Augenschein, doch wäre auch ein wesentlich beherzterer Mann an meiner Statt an dem Anblick zerbrochen. Henry, ich sah die Coleoptera Mystica. Käfer, in gigantischen Ausmaßen. Sie wimmelten millionenfach über den kalten Höhlenboden, waren zwanzig, dreißig oder gar fünfzig Zentimeter lang. Die Männer aus dem Dorf standen im Halbkreis vor einem steinernen Becken, dass mit einer grünen, glitschigen Masse gefüllt war, in der in unregelmäßigen Abständen die Silhouetten von weiblichen Körpern zu erahnen waren. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich während meines gesamten Aufenthalts in Salazac keine Frau zu Gesicht bekommen hatte und mir dämmerte mit einem Mal ihr grausiges Schicksal. Die titanischen Käfer wimmelten um sie herum. Nun vernahm ich auch den monotonen Singsang, den die Männer angestimmt hatten und ich musste mit Schrecken beobachten, wie die widerliche Masse hin- und herwogte. Und wäre all dies nicht schrecklich genug gewesen, thronte auf der anderen Seite des Beckens ein Insekt abnormer Größe über der gesamten Szenerie, eine Königin von unaussprechlicher Größe, deren Kopf ich in dem Schein der Fackeln mehr erahnen als wirklich erkennen konnte.
Ich muss wohl geschrien haben, anders kann ich mir nicht erklären, dass mein Geist bei diesem abartigen Anblick nicht sofort in Scherben zusammenbrach, von dem unheimlichen Druck der Eindrücke einfach zersplittert. Wie ich zurück hier in meine winzige Kemenate kam, die mir in den letzten Tagen als Heimstatt diente, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, Henry, dass ich dir von diesem lästerlichen Tun berichten muss. Die Morgendämmerung bricht an, während ich diese letzten Zeilen niederschreibe, Henry. Schon kann ich die erste Grille vor meinem Fenster hören. Was mir vor wenigen Tagen noch als glückseliger Hochgenuss in den Ohren klang ist nun der erste Hinweis auf den Tod für mich. Wenn das Rauschen der Myriaden Grillen jedes andere Geräusch erstickt, werden sie mich holen kommen, dessen bin ich mir sicher. Und die wenige verbliebene Zeit erlaubt mir nicht, einen Gedanken an Flucht zu verschwenden. Henry, erlaube mir ein letztes Mal, dich an dein gegebenes Versprechen zu erinnern. Unternehme alle Schritte, die dir als Reaktion auf meine Schilderungen nötig erscheinen. Suche nicht nach mir, alter Freund. Die Sonne geht auf und mir wird kein weiterer ihrer Aufgänge beschieden sein.
In tiefer Freundschaft
A. F.
Mit großem Dank an H. P. Lovecraft und F. Heller für die Inspiration.
André „Seanchui“ Frenzer, 2021