Beschreibung
Mitten im Dschungel des Amazonasgebietes wachsen seltsam verdrehte Urwaldriesen auf einer fauligen, feuchten Lichtung nahe beieinander. Ihre dürren, blattlosen Äste sind wie die knochigen Finger einer alten Frau ineinander verknotet. Unter ihren Wurzeln rotten die überwucherten Überreste alter Mauern und Plätze längst vergessener Kulturen vor sich hin.
Zu jeder Neumondnacht formen sich aus Ameisenschwärmen, die über die Äste krabbeln, seltsame Kreise, Spiralen und Linien.
Die Angehörigen des Stammes der Maripexa („Ameisen-Tänzer-im-Licht-des-Mondes“), die dieses Gebiet bewohnen, meiden in solchen Nächten diesen Ort. Sobald die Schwärme ihre verwirrenden, ineinander gedrehten Positionen eingenommen haben, verharren sie bis zum Sonnenaufgang dort wie ein einziges Tier.
Und dann … dann leuchten ihre winzigen Körper in zitringelbem Licht und enthüllen dem Betrachter schreckliche Wahrheiten und er hört ein Flüstern von jenseits der Sterne …
„Carcosa“ murmeln diejenigen, die zu lange das flirrende Sigulum betrachteten … und bleiben als sabbernde Idioten zurück … die ihre leeren Augen in den Nachthimmel richten. Einige von ihnen sind als stumme, mumifizierte und moosbewachsene Mahnmahle auf der Lichtung zurückgeblieben. Ihre leeren Augenhöhlen starren wie schwarze Sterne in den Nachthimmel.
Szenarioaufhänger
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine Expedition ins Amazonasgebiet und die ersten Europäer wurden Zeugen des Sigulums. Von denen, die es mitansahen, kehrten nur drei ins Basislager zurück und nur einer von ihnen war noch einigermaßen im Stande, um davon zu berichten. Mehr noch: Er hatte eine Zeichnung angefertigt - vermutlich der Grund warum sein Verstand nicht vollkommen dem Wahnsinn anheimfiel. Er und sein Tagebuch fanden den Weg zurück nach Europa. Er verschwand dort in einem Irrenhaus, doch sein Tagebuch gelangte über Umwege in die Hände …
- … eines wohlhabenden Südamerikaforschers
- … einer Universitätsbibliothek
- … einer kleinen privaten Sammlung
- … seiner Frau
- … der Kirche
- … des FHTAGN-Netzwerks
Über einen dieser Wege werden die Charaktere auf das Buch und die dort beschriebene „Goldene Stadt“ aufmerksam. Entweder sie werden angeheuert oder starten ihre eigene Expedition.
Alternativ
kann auch untenstehender Reisebericht als Einstieg gewählt werden. Das Tagebuch wird dann im Anschluss von den Charakteren, im Rahmen ihrer Ermittlungen, erworben.
Das Sigulum als Karte
Wenn schon Menschen den Tanz der Ameisen bezeugt und dabei ihren Verstand eingebüßt haben, warum sollte das dann nochmal jemand tun?
Ein sehr großzügiger oder anderweitig sehr überzeugender 'Gönner' setzt die Charaktere auf das Sigulum an. Er vermutet mehr hinter dem Reisebericht oder dem Tagebuch, möchte El Dorado – die goldene Stadt – finden und verspricht Ruhm und Reichtum. Eine Expedition in diese Region der Erde könnte auch in heutiger Zeit noch, vom Dschungel verborgene, Schätze und Ruinen zutage fördern. Dem Entdecker eines El Dorados, auch wenn es – oder besser, gerade wenn es – von der breiten Masse als Mythos und nettes Märchen abgetan wird, wäre ewiger Ruhm in den Geschichtsbüchern sicher, ganz zu schweigen vom schier endlosen Reichtum.
Linien und Kreise und Spiralen, das könnte doch eine Karte sein! Die Bäume aus dem richtigen Winkel betrachtet, ja, genau von diesem Punkt aus, zu dem sich diese drei Steinstelen neigen, sieht das nicht einem Ausläufer der Anden gleich? Hier Pfade durch den Urwald, ein Tal von einem längst ausgetrockneten Fluss geformt und dort dieses Ende einer Linie: Hier gibt es einen Gletscher, der bestimmt den Eingang zu einer Höhle unter sich begrub. So hat das noch keiner interpretiert! Wenn nicht wir, wer denn dann?
Was sind/ist „die Schritte | der Weg des Lichts | des Erleuchteten | des Herrschers“, die August Schulz in seinem Tagebuch erwähnt? Und warum drängt es ihn zu tanzen?
Und schon zieht er auf, der Duft von Lagerfeuern, die in der Ferne brennen, von Schießpulver und Schweiß. Exotische Speisen schleichen sich in unsere Gedanken, die wir von den goldenen Tellern im El Dorado kosten wollen. Und diesmal, dieses eine und erste Mal ist es nicht das Restaurant in der Stuttgarter Oststadt!
Wann soll die Expedition stattfinden?
Papier ist geduldig. Die Bücher können lange Zeiten überdauern und eine Expedition wird nicht unbedingt einfacher, nur weil man eine ferngesteuerte Drohne mit im Gepäck hat.
Bis 1886 steht theoretisch der einzig bekannte Zeuge zur Verfügung.
Und wenn er der einzige Zeuge geblieben ist, wie hat sich dann der Stamm der Maripexa entwickelt? Existiert er noch? Wurde er durch die Nähe zu einer regelmäßig wiederkehrenden Quelle des Mythos verändert? Und wenn ja, wie?
Die Expeditionsteilnehmer von 1847
Universität Utrecht
- Prof. Willem Jorgens - Ethnologe
- Dr. Antoni Barlov - Sprachkundler für die Sprachen der brasilianischen Ureinwohner
- Dr. Paul Krehl - Sprachkundler
- Jan Johannsson - Doktorstudent in Archäologie
- fünf weitere akademische und technische Mitarbeiter
Oxford University
- Dr. Louis Errat - Mediziner im Bereich Tropenkrankheiten
- Charles Whennigston - Doktorstudent in Botanik
- Benjamin Meyer - Doktorstudent in Anthropologie
- Marie Harthton - Doktorstudentin in Tierkunde der tropischen Regenwälder
- fünf weitere akademische und technische Mitarbeiter
Financier
- Pieter Van Berghoven
Freie Mitarbeiter
- Dr. Heinrich von Doldenburg - Anthropologe
- August Schulz - Zeichner
- Josef Heckel - Techniker
Der Zeuge
August Schulz (geboren im Jahr 1823) war zum Zeitpunkt der Expedition, im Jahr 1847, 24 Jahre jung und Absolvent der Akademie der Bildenden Künste zu München.
Er wurde der Expedition zugeteilt, um sie zeichnerisch zu dokumentieren. Er sollte die Ureinwohner, ihre Siedlungen und ihre Kulturschätze zeichnen und ebenfalls neue Spezies aus Flora und Fauna festhalten. Nachdem er das Schauspiel auf der Lichtung mit angesehen und gezeichnet hatte, verbrachte er dort drei Tage ohne Nahrung. Nur zwei weitere Männer (Dr. Errat und Prof. Willem Jorgens - vgl. Der Reisebericht) waren nach diesem Erlebnis noch in der Lage sich zu bewegen, doch alle drei irrten vollständig umnachtet zwischen den alten Baumriesen umher.
Ein kleiner Suchtrupp fand die erste Gruppe um van Berghoven, von den ehemals 15 Aufgebrochenen fanden sie lediglich zwölf, davon waren drei bereits tot und fünf nurmehr katatonisch in den Himmel starrende Häufchen. Die drei Bewegungsfähigen nahm der Suchtrupp wieder mit ins Dorf und im Anschluss zurück bis Europa. Dort wurden alle drei Männer in eine Irrenanstalt in Bayreuth eingeliefert.
August Schulz verstarb dort im Jahr 1886, im Alter von 63 Jahren. Er hinterließ eine Witwe, jedoch keine Kinder. Während seiner Zeit in der Irrenanstalt sprach er oft von einer goldenen Stadt im Urwald und davon, wie er so gerne unter einem sternenlosen Himmel mit den Ameisen getanzt hätte. In unermüdlichen Versuchen zeichnete und malte er diese Stadt und die Bäume stets aufs Neue (die Bilder können in seinem Nachlass gefunden werden). Seine letzten Worte, mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, waren: Ich habe die Schritte gefunden.
Das Tagebuch
Download des Tagebuchs:
Das Tagebuch mag schwer zu lesen sein, weswegen hier noch einmal der Inhalt als Klartext wiedergegeben wird:
August Schulz
Amazonas III
16ter Tag bei den Maripexa
Die Eingeborenen werden sichtlich nervöser. Sie wollten uns sogar mit Gewalt davon abhalten, die Lichtung aufzusuchen. Van Berghoven beantwortete dieses Verhalten ebenfalls mit Gewalt & hat die Männer & Ältesten des Dorfes in ihre Hütten gesperrt. Der Schamane ist in einen monotonen Singsang verfallen, dessen Inhalt selbst Barlov nicht übersetzen konnte.
Jorgens beorderte mich, das vermeintliche Schauspiel auf der Lichtung zu zeichnen. Widerwillig werde ich mitgehen, doch die Art & Weise wie wir dieses Wissen erlangt haben & das Verhalten der Eingeborenen gefällt mir nicht. Ich habe kein gutes Gefühl.
17ter Tag bei den Maripexa
Der Vormittag verging mit Vorbereitungen, kurz vor Mittag brachen wir mit 15 Mann, unter Führung von Van Berghoven nach Südwesten auf.
Bereits nach einer Stunde wurde der Urwald dichter denn je auf der gesamten Expedition. Jorgens schätzt unsere Ankunft auf den späten Nachmittag.
Wir rasten. Die Hitze, die Feuchtigkeit & der Wald machen allen zu schaffen. Zum Glück lässt uns die Tierwelt in Frieden ziehen.
Eine Sache lässt mich nicht los:
Kurz vor unserem Aufbruch unterbrach der Schamane seinen Gesang & rief uns etwas zu, das Barlov nur bruchstückhaft übersetzen konnte & Van Berghoven mit einem Hieb seines Gewehrkolbens quittierte – der Schamane flehte uns an den nächsten Neumond abzuwarten & die Schritte | den Weg des Lichts | des Erleuchteten | des Herrschers zu gehen. Die Angst in den Augen des Schamanen wird mich noch einige Zeit verfolgen.
17ter Tag abends
Wir haben die Lichtung tatsächlich erreicht!
Ich war nicht der Einzige, der eine Rückkehr vorschlug. Van Berghoven ließ jedoch keinen Zweifel an seiner Entscheidung.
Heckel wurde von einem Jaguar angefallen. Dr. Errat konnte sein Bein nicht retten & wir mussten eine Trage für Heckel improvisieren.
Die Lichtung ist atemberaubend!
Diese Bäume müssen uralt sein, älter denn alle Bäume.
Zum Zeichnen suche ich mir einen nahen Hügel, der genügend Übersicht bietet. Von hier aus kann ich, in der faulig, feuchten Lichtung, etwas wie Strukturen erkennen. Wachsen diese Bäume etwa auf Ruinen? Wie alt müssen diese sein?
Leitern werden an die Bäume gestellt, Seile über ihre gigantischen Äste geworfen. Van Berghoven & Jorgens wollen möglichst nahe heran.
Im Schein unzähliger Fackeln & Laternen tanzen die Schatten der moosüberwucherten Felsen & Mauerreste fast wie lebende Wesen über die Lichtung.
Während ich im Schein meiner Lampe noch die Bäume skizziere, geht ein Raunen durch die Männer bei den Bäumen, sie beginnen die Lampen zu löschen & es wird stockfinster – nicht einmal die Sterne scheinen am Himmel zu stehen.
Doch etwas erleuchtet die Bäume. Ein schwacher, gelblicher Schimmer wandert die alten Riesen empor. Zitringelb überzieht die Ruinen & konzentriert sich auf den Bäumen. Linien, Spiralen, Kreise bilden sich heraus – ich versuche sie auf meiner Zeichnung festzuhalten.
Es ist totenstill – ich möchte tanzen.
Die Stadt aus Licht
die erleuchtete Stadt
die goldene Stadt
eine Stadt aus purem Gold
Zwischen den Zeilen steht – auf dem Kopf und spiegelverkehrt, beinahe arabisch anmutend:
Oh, könnte ich nur tanzen
Ich würde in ihr Licht eingehn
Doch so muss ich verharren
Und still zum Himmel sehn
Statt Gold nur schwarze Sterne
Der Reisebericht
Reisebericht von Dr. Heinrich von Doldenburg als Download:
Reisebericht zur Expedition
nach Amazonien von
September 1847 bis Februar 1848
Unter der Leitung von Prof. Willem Jorgens
verfasst von
Dr. Heinrich von Doldenburg, Privatgelehrter
März 1849
[Stempel: Abgelehnt - handschriftlicher Vermerk: zu persönlich - Weber]
Zur Einreichung in die „Blätter der Völkerkunde“
VORWORT: Ursprünglich verfolgte ich die Absicht, mit meiner Teilnahme an der Expedition von Prof. Willem Jorgens, anthropologische und ethnologische Studien über die primitiven Völker des südlichen amerikanischen Kontinentes zu beschließen. Im Bewusstsein mit meinen deutschen Kollegen zu brechen, sollten diese Studien ganz im Stile englischer Ethnologen wie Edward Burnett Tylor durchgeführt werden: Keine kulturhistorische Konstruktion, sondern mehr eine Untersuchung der Funktionsweise der primitiven Völker mit einem Fokus auf deren Mythologie, Magie und Religion.
Die Gier und der daraus resultierende Irrsinn des Expeditionsteilnehmers Pieter Van Berghovens steuerte die Expedition jedoch in ein Verderben, wie ich es mir nicht hätte ausmalen wollen. Eine Studie der Adaption der hiesigen Mythologie und Religion durch die Expeditionsteilnehmer scheint mir beinahe interessanter, denn die ursprüngliche Mythologie selbst. Doch, um die Adaption zu verstehen, muss man zunächst über die Mythologie Kenntnis erhalten.
Besondere Aufmerksamkeit möchte ich auch auf das Verhalten des jungen August Schulz lenken, der als Einziger mit einem kleinen Teil seines ehemaligen Verstandes von einer Subexpedition zurückkehrte. Die in diesem Werk aufgeführten Übersetzungen stammen von Dr. Antoni Barlov und Dr. Paul Krehl, Universität Utrecht unter Prof. Jorgens.
Die Expedition wurde von Prof. Willem Jorgens von der Universität Utrecht, mit dem Ansinnen der Erforschung und Dokumentation der dort ansässigen primitiven Völker, der Flora und Fauna, sowie der Kartographie, in die Wege geleitet. Financiers waren neben der Universität auch der Kaufmann Pieter Van Berghoven, der darselbst an der Expedition teilnahm. Zudem fand die Expedition in Kollaboration mit der Universität zu Oxford statt, die 9 wissenschaftliche Mitarbeiter stellte. Trotz oder gerade wegen der populistischen Verbreitung, vor Allem unter Jugendlichen, der „Reise in Brasilien von dr. Joh. Bapt. von Spiz und dr. Carl Friedr. Phil. von Martius“ wurde diese Expedition, mit dem Ziel einer wissenschaftlicheren Erforschung der Indianer, der Flora und Fauna des Amazonen Stromes, ins Leben gerufen.
Die Expedition startete am 11. Oktober 1847 mit der „Stormtocht“ von Den Haag. An Bord waren neben der 75-köpfigen Besatzung 22 Expeditionsmitglieder. Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Die Überfahrt verlief ohne größere Zwischenfälle und erreichte am 28. Oktober Georgetown. Beginn der Regenzeit. Gut 20 Einheimische wurden als Führer und Träger angeworben. Auf einem kleineren Handelsschiff fuhren wir an der Küste entlang nordwärts zur Mündung des Esquivo und ihn entlang bis Bartica. Weitere Einheimische wurden rekrutiert, der missionarische Gründungseinfluss hat uns hier gute Dienste erwiesen. Von hier aus wurde die Reise deutlich ungemütlicher: Anhaltender Dauerregen, kleinere Boote und damit beengende Verhältnisse, Schwärme von Insekten. Geschlafen haben wir auf dem Wasser in den vertäuten Booten.
Wir verbrachten gute sieben Tage auf dem Esquivo. Die Reise auf dem Fluss musste mehrere Male wegen Stromschnellen unterbrochen werden und wir mussten die Boote über Land tragen. Zwei Engländer sind an heftigem Fieber und einem juckenden, eitrigen Ausschlag erkrankt. Am achten Tag erreichten wir Apoteri, an der Mündung des Rupununi. Die letzte Siedlung westlicher Missionare. Dort rasteten wir einige Tage, tauschten einige Träger und Boote und versorgten unsere Kranken. Charles Whennigston, einer der Erkrankten, erzählte von fiebrigen Wahnträumen, in denen Scharen von Insekten auf seiner Haut krabbelten.
Weitere sechs Tage den Rupununi hinauf erreichten wir ein vom starken Regen überspültes Becken, dass nur zur Regenzeit eine einfache Passage zum Rio Tacutu erlaubt. Wir nahmen also den Dauerregen und die schwüle Hitze und die Mückenschwärme für eine drei Wochen kürzere Reise in Kauf. Dann hat mich das Fieber und der Ausschlag eingeholt, zusammen mit vier weiteren Europäern. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist ein verlassenes Fort der Portugiesen, das der Urwald wieder vereinnahmt hatte. Mein Fieber ließ nach, als wir den Rio Branco bereits verlassen hatten, und den Rio Negro flussaufwärts unterwegs waren. Acht Tage fehlen mir, so sagte man. Die Erzählungen des Engländers müssen mich mehr geekelt haben, als ich mir selbst eingestehen wollte, denn auch ich hatte unter Fieberträumen zu leiden, in welchen unzählige brennende Insekten meine Haut besiedelten. Feuerameisen. Einige Hügel hatten wir auf unserer Reise bereits passiert. Höchst interessant, wie der menschliche Geist wahrnimmt, aufnimmt und verwandelt. Vor Allem, wenn er sich mit Ungewohntem und Unbekanntem konfrontiert sieht.
Es muss Mitte November gewesen sein, als wir den Rio Negro auf dem Rio Uneiucsi Richtung Süden verließen und damit die nördliche Halbkugel verließen. Während der Regenzeit greifen die vielzähligen Arme dieses Flusses nach dem Wald, als wolle er ihn an sich reißen. Während der Regenzeit bahnt sich der Fluss neue Wege durch den Wald und beschreitet jedes Jahr neue Pfade, was eine genaue Kartographierung nahezu unmöglich macht. Bald drei Tage den Fluss hinab begegneten wir jenem Stamm, dessen Gäste wir für das nächste halbe Jahr sein sollten. Die Maripexa, wie sie sich selbst nennen. Über Dr. Antoni Barlovs Übersetzung blieb mir beinahe das Herz stehen: Ameisen-Tänzer-im-Licht-des-Mondes. Interessant war dieser Stamm für unsere Expedition, da sie scheinbar ohne Vorurteil auf unser Kommen reagierten, was aus meiner Perspektive dafür sprach, dass sie den Portugiesen nie begegnet sind.
[Es folgen einige Seiten über das Errichten eines Basislagers und die erste Kontaktaufnahme mit den Maripexa, dem Austausch von Geschenken und schließlich dem zögerlichen Zusammenleben]
Januar, 1848. Seit zwei Wochen nun leben Jorgens, Van Berghoven, Barlov, Heckel, Meyer, Harthton, Dr. Errat, der junge Schulz und ich im Dorf der Maripexa und nehmen an ihren Ritualen teil. Mit Barlov als Dolmetscher habe ich die ersten Gespräche mit dem Schamanen Macuxi über deren Geisterglauben begonnen und bin fasziniert von diesen naiven Überzeugungen. Der Mann rationaler Denkweisen in mir lächelt milde, der Sucher in mir fühlt sich aufgefangen, endlich angekommen. Vor allem Schulz gesellte sich des Öfteren zu uns und zeichnete den alten Schamanen. Ich sah mit wachsender Begeisterung zu, wie er die Falten und das Feuer in den Augen zum Leben erweckte. Die Zeichnungen sind vermutlich nicht erhalten, er ließ sie beinahe verschämt verschwinden, als ich ihn fragte, ob er eine für mich anfertigen könnte.
Dr. Barlov hatte ein breites Wissen, was die Dialekte der Indianer des Amazonen Waldes anbelangt, doch an einigen Stellen waren weitschweifige Erklärungen notwendig, um auch nur im Ansatz zu verstehen, was Macuxi erzählte:
Der Geisterglaube der Maripexa
Zu Anbeginn der Zeit (Tage) war das goldene Licht und kein Leben konnte gedeihen, da es vom Licht geblendet war und sich nicht an die Oberfläche der Erde wagte. Der große Geist Chaxur (Der-das-Licht-bändigt) schnitt mit seinem Speer (spitzer Stock/Liane) Löcher in die grellen Himmel. Aus dem Gold formte er Guaraci Tupi (die Sonne/den goldenen Gebieter) und malte ihm mit seinem Speer Guaraciaba Tupi (Haare der Sonne/goldenes Gewand des Gebieters) und errichtete ihm eine Stadt aus Gold (Guarcosax).
Das Errichten der Stadt hatte beinahe alles Licht von den Himmeln aufgebraucht. Nur noch einzelne Lichter verblieben in der Schwärze, einige von ihnen bildeten eine Straße, auf welcher Guaraci Tupi über den Himmel streift. Ohne das blendende Licht wagten sich Pflanzen aus der Erde hervor, die von Tieren (erste Wesen) aus der goldenen Stadt gefressen wurden. Die Tiere waren mit „goldenen Fäden um ihre Herzen“ (Herz-von-Licht-gehalten) an die Stadt gebunden. Doch die Pflanzen veränderten die Tiere, bis diese die goldene Stadt zu verstehen vermochten und die Taten von Chaxur nachahmen wollten. Die gewordenen Menschen schufen sich Speere und zerschnitten die Fäden, sie zogen aus der Stadt und nahmen einige Tiere mit sich.
Räumlich und körperlich von der Stadt getrennt betraten sie die Welt und die Leere zwischen den Sternen kroch in ihre Herzen und gebar Geister (Wesen-der-Dunkelheit). Die Brüder und Schwestern Chaxur’s waren neidisch auf sein Werk und wollten es für sich gewinnen. Die Menschen machten sich auf, die goldene Stadt mit Gewalt zu erstürmen und Chaxur sah sich gezwungen die Stadt zu verstecken. Nur noch jene Tiere, die ihre Fäden nicht zerschnitten hatten, können den Weg in die Stadt finden. Wir Menschen jagen durch unsere Leben, auf der steten Suche nach der Stadt, getrieben von den Wesen der Leere, von unseren Geistern. Nur wenn wir das goldene Licht in uns erhalten können wir zur Stadt gelangen. Wenn ein Mitglied der Gemeinschaft ein Vergehen gegen die Gemeinschaft begeht, so haben die Geister die Kontrolle über ihn gehabt. Er geht eine Nacht in den Wald und macht Jagd auf ein Wesen der Leere (zumeist eine große Schlange, ein Pekari oder gar einen geschwächten Jaguar). Der Schamane häutet das Tier und fertigt aus einem Auge, den Knochen und rituellen Pflanzen ein Totem, das er mit dem Blut des Tieres weiht. Der Betroffene hüllt seinen nackten Körper in die Haut des Tieres und hält das Totem in seinem Mund, während der Schamane das restliche Blut tanzend über ihn verteilt. Die restlichen Stammesmitglieder stimmen einen hypnotischen Gesang an, spielen auf Trommeln und tanzen unter dem Licht des Mondes in langen Reihen - wie auf einer Ameisenstraße. Hat der Betroffene das richtige Tier erlegt, so beginnt er zu zucken und sich zu winden. Auf dem Höhepunkt der Ekstase zerbeißt er das in Pflanzen gewickelte Auge und der Geist flieht in die Haut des Tieres, die in den Tiefen der Wälder verschwindet.
Diesen Menschen ist das Konzept der Schuld völlig unbekannt. Es sind stets die Geister, die Wesen aus der Leere zwischen den Sternen, die unweigerlich entstehen mussten, um Leben zu ermöglichen, die unsere Gemeinschaften zerrütten. Ein Ritual der Reinigung wäscht die Geister davon und rehabilitiert die Betroffenen vollkommen.
Auf unseren Besprechungen erzählte ich den anderen von meinen Erkenntnissen und wir diskutierten die Parallelen zu anderen Schöpfungsmythen und Religionsformen. Ein junger Kollege von Dr. Barlov, Dr. Krehl, hatte zusammen mit Heckel Erkundungen über die Umgebung eingeholt und sie sind dabei auf ein Naturphänomen gestoßen, dem sich die Maripexa verbunden fühlen, dass sie jedoch im selben Maße zu fürchten scheinen:
Mitten im Urwald wachsen seltsam verdrehte Urwaldriesen auf einer fauligen, feuchten Lichtung nahe beieinander. Ihre dürren, blattlosen Äste sind wie die knochigen Finger einer alten Frau ineinander verknotet. Zu jeder Neumondnacht formen sich aus Ameisenschwärmen, die über die Äste krabbeln, seltsame Kreise, Spiralen und Linien. Sobald die Schwärme ihre verwirrenden, ineinander gedrehten Positionen eingenommen haben, verharren sie bis zum Sonnenaufgang dort wie ein einziges Tier. Und dann leuchten ihre winzigen Körper in zitringelbem Licht.
Ameisen, wieder Ameisen und zitringelbes Licht, der Zitrin, ein Stein, den die Maripexa oft in ihrem rituellen Schmuck verwenden, goldgelb, wie das Licht Guarcosax’. Die Parallelen ließen uns alle erschaudern. Doch es scheint als erschauderte Van Berghoven in anderer Weise, als die Restlichen von uns.
Die Maripexa warnten uns davor dem Schauspiel beizuwohnen. Nur die Ältesten und Weisesten des Dorfes besuchen die Lichtung, um dort ihr hiesiges Leben zu beenden. Ihre Überreste bleiben als zusammengekauerte, überwucherte Mahnmale zurück. Keiner der Jüngeren wagt sich dorthin.
Van Berghoven ließ sich davon nicht beeindrucken, im Gegenteil, es stachelte ihn an, forderte ihn heraus. Er begann von Eldorado zu fabulieren, sah im Schöpfungsmythos der Maripexa eine Verschleierung, um Andere von den heimlichen Reichtümern der Ureinwohner fernzuhalten. Er drängte Dr. Barlov, Dr. Krehl und mich nachzubohren und Fragen zu stellen, die seine Thesen stützten. Und er sollte bekommen, was er suchte, denn die Maripexa machten keinen Hehl daraus, dass in der goldenen Stadt große Reichtümer warten. Wir drei mussten das Kommende geahnt haben, zumindest entnehme ich das im Nachblick Barlov’s und Krehl’s verunsicherten Gesichtern, in die sich aufkeimende Angst einschlich.
Es vergingen nur wenige Tage bevor Van Berghoven den Entschluss fasste zum nächsten Neumond die Lichtung aufzusuchen. Die Maripexa wurden unruhig und versuchten uns, mit zunehmender Panik (oder war es Sorge), davon abzuhalten die Reise zu unternehmen. Unsere Expeditionsgesellschaft begann sich in zwei Lager zu spalten. Van Berghoven’s Anhängerschaft war zwar kleiner, doch schienen sie auch zu Allem bereit. Je weiter der Mond abnahm, desto aggressiver wurden die Diskussionen, bis sie zwei Tage vor Neumond in Handgreiflichkeiten umschlugen: Die Maripexa rüsteten sich zum Kampf und erklärten uns, dass einige von uns von den Wesen der Leere besessen wären und gereinigt werden müssten. Van Berghoven’s Gruppe reagierte prompt, feuerte Gewehre in die Luft ab, schlug mit roher Gewalt einige Maripexa in die Ohnmacht und sperrte das halbe Dorf in Hütten. Und auch wir, die Nichts von der Lichtung wissen wollten, wurden mit Waffengewalt in Schach gehalten.
Selbst die Tiere des Urwaldes schienen dieser Tage unruhiger.
Am Tag vor Neumond zogen sie los. Van Berghoven zwang Jorgens zur Mitreise und Jorgens bat den jungen Schulz das Schauspiel zu dokumentieren, wenn sie es nun schon besuchten. Dr. Barlov und ich standen weiterhin im Gespräch mit den Stammesführern, der Schamane Macuxi war, seit der Gefangennahme, in einen kakophonischen Singsang verfallen, den keiner der Sprachgelehrten mehr zu übersetzen vermochte. Nur Minuten vor der Abreise unterbrach er sein Singen und brach mit einem Schwall schwer verständlicher Worte über uns herein, der junge Schulz sah, mit vor Angst geweiteten Augen, zu uns herüber und schien die Worte sowie Dr. Barlov’s gestammelte Übersetzung in sich aufzusaugen: Wir sollen warten bis der nächste Neumond (lange-dunkle-Nacht) komme, um die Schritte (den Weg) des Lichts (des Erleuchteten, des Herrschers) zu gehen.
Van Berghoven schlug seinen Gewehrkolben in das verzweifelte Gesicht Macuxi’s und befahl seiner Gruppe den Aufbruch. Der Rest von uns blieb, mit Gewehren bewacht, zurück. Unsere Überzahl genügte, um die Wachen in der Nacht des Neumondes zu überrumpeln und die Maripexa zu befreien. Der Schamane war voller Angst und rief immer wieder, dass nun die Geschwister Chaxur’s den Weg in die Stadt fänden und die Sonne stählen. Die Gruppe um Van Berghoven kam, auch am zweiten Tag, nicht wieder, die Sonne stieg jedoch am Morgen hinter dem Horizont empor.
Auf sein Drängen hin konnte Meyer einige Dorfbewohner, sowie Harthton, Whennigston und Johannson davon überzeugen, ebenfalls die Reise zu unternehmen, um die Anderen zu finden. Ich wollte dieser Lichtung nicht zu nahe kommen und blieb im Dorf.
Rascher und kleiner als erwartet kam die Gruppe zurück. Nur drei der fünfzehn Mann aus Van Berghoven’s Gruppe kamen mit zurück. Und in welch einem Zustand! Dr. Errat und Jorgens mit Blicken so leer wie das Schwarz aus dem die Geister kamen, nicht fähig auch nur eine Silbe zu artikulieren. Und der junge August Schulz, mit wahnhaftem Blick, sich zitternd umschauend und immer wieder etwas von der goldenen Stadt stammelnd und dass er tanzen wolle. Von Zeit zu Zeit saß er auf dem Boden und zeichnete Bäume und turmhohe Häuser in die Erde. Was hatten diese Menschen auf der Lichtung nur gesehen?
Von Van Berghoven und seinen Anhänger waren, laut Meyer’s Bericht, noch acht gefunden worden, fünf davon noch am Leben doch nicht in der Lage sich zu bewegen. Sie saßen da und starrten mit offenen Mündern gen Himmel, ganz ähnlich den mumifizierten Überesten der Ältesten der Maripexa, welche die Lichtung umsäumten.
In den folgenden Tagen brachen wir die Zelte ab und begaben uns auf die lange Reise zurück, den Rio Negro hinab, den Rio Branco hinauf - diesmal von weniger Insekten geplagt mussten wir, ohne die, von Regen überflutete Ebenen, bis zu dessen Quelle vordringen und im Serra Acaraí auf den Esquivo übersetzen. Die wenigen Vorräte waren bald zu Ende und nahezu ausgehungert war es ein Wunder, dass wir, wie in Trance, diese gewaltige Reise meisterten. Unsere drei Schutzbefohlenen waren noch das kleinste Problem. Der junge Schulz bemalte die Boote in mehreren Schichten mit Bäumen und Türmen. Richtigen Schlaf fanden wir erst wieder in Georgetown, das uns mit dem nun verstörenden Trubel einer Hafen- und Handelsstadt empfing und ich vermute, dass wir alle große Teile der Atlantikquerung verschliefen, jedenfalls kam mir die Rückreise um ein Vielfaches schneller vor. Doch weiß ich nun auch, dass die Erinnerung eine trübe Angelegenheit sein kann und bereits bei unserem Eintreffen in Hamburg, am 13. Februar 1848, kamen mir die vergangenen Monate wie ein übler Fiebertraum vor. Doch nun, ein Jahr später, da ich diesem Bericht verfasse, bin ich mir sicher, diese Expedition unternommen und die Maripexa im Amazonenwald besucht zu haben.
- Dr. Heinrich von Doldenburg, 3. März 1849
Nach einer Idee von Uwe Mechenbier, 2018
Ausarbeitung von Emanuel Wendler, 2021